Längst nicht alles gesagt:
Nazijuristen kein Thema?
64. Deutscher Juristentag vom 17. bis 20. September in Berlin
Von Hans Daniel
Junge Welt, 18.09.2002
Ehe sich die Teilnehmer bei dem am Dienstag im Berliner ICC begonnenen 64.
Deutschen Juristentag in das Berliner Nachtleben stürzen, wäre seitens der
Kongreßleitung ein Besuch der Niedersächsischen Landesvertretung In den
Ministergärten zu empfehlen gewesen. Um 19 Uhr sprach dort im Rahmen der gestern
zu Ende gegangenen Ausstellung "Justiz im Nationalsozialismus – Über Verbrechen
im Namen des deutschen Volkes", der Hamburger Historiker Ingo Müller. Sein
Thema: "Furchtbare Juristen – Juristen im Nationalsozialismus. Ihre
Nichtverfolgung in der Nachkriegszeit und der Verlust an Rechtskultur".
So sperrig der Vortragstitel, so brisant ist das Thema auch über
55 Jahre nach dem Ende der faschistischen Herrschaft, an dessen Blutterror die
Justiz einen maßgeblichen Anteil hatte. Neben der Ausstellung war das Thema
"Justiz im Nationalsozialismus – Ergebnisse der neueren Forschung" auch
Gegenstand eines Workshops am vergangenen Freitag in der Gedenkstätte Deutscher
Widerstand.
Die demnächst in Osnabrück, Lüneburg, Bückeburg und anderen
niedersächsischen Städten zu sehende Ausstellung dokumentiert das aktive
Mitwirken der Justiz an den Verbrechen des faschistischen Regimes,
erinnert an Opfer aus allen Schichten der Bevölkerung und macht an
Beispielen kenntlich, daß das Jahr 1945 keineswegs das Ende der Karriere
für einen Berufsstand war, über den im Urteil des Juristenprozesses vor
dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal gesagt wurde: "Der Dolch des
Juristen war unter der Robe des Juristen verborgen."
Die Frage, ob überhaupt noch Bedarf besteht, an den Terror der NS-Zeit in
Ausstellungen dieser Art zu erinnern – "ist nicht schon alles gesagt und
aufgezeigt?" – beantwortete Niedersachsens Justizminister Christian Pfeiffer bei
der Ausstellungseröffnung am 10. September in einem bemerkenswert kritischen
Rückblick auf die Entwicklung der Justiz dieses Bundeslandes. Anfang der 90er
Jahre wurde hier begonnen, Material zur Justiz in den Jahren zwischen 1933 und
1945 zusammenzutragen und in der JVA Wolfenbüttel eine Ausstellung aufzubauen.
Ein mit Justizverbrechen befrachteter Ort: Hier stieg die Zahl der Hinrichtungen
von zehn im Jahre 1939 auf 152 im Jahre 1943. Von den Opfern der berüchtigten
"Nacht- und Nebel"-Aktion im Herbst 1941 wurden von den in den westeuropäischen
Ländern festgenommenen Widerstandskämpfern über 700 in Wolfenbüttel inhaftiert
und 64 hingerichtet, über 30 starben in der Haft.
Das "niederschmetternde Fazit" der Nachkriegsverfolgung belasteter
NS-Richter lautet nach Pfeiffer: "Bis auf zwei Ausnahmen in der
unmittelbaren Nachkriegszeit ist kein Richter, kein Staatsanwalt wegen
seiner Beteiligung an NS-Todesurteilen zur Rechenschaft gezogen worden."
Allein in Niedersachsen endeten über 50 Verfahren wegen Justizverbrechen
mit einer Einstellung." Bereits Anfang der 50er Jahre habe in
Niedersachsen "der Anteil von Richtern, die einstmals Mitglieder der
NSDAP waren, mehr als 80 Prozent betragen". Pfeiffer weiter: "Erst Mitte
der 80er Jahre schieden die letzten formell belasteten Juristen
altersbedingt aus dem Justizdienst aus."
Die Ausstellung stellt einige dieser Juristen mit ungebrochener, in einigen
Fällen sogar blendender Nachkriegskarriere vor. Exemplarisch genannt wurden
Staatsanwalt Dr. Willi Geiger und Landgerichtsdirektor Kurt Bellman. Geiger, ein
Theoretiker der Rassengesetzgebung, der später bei sechs Todesurteilen an
Sondergerichten mitwirkte, avancierte zum Vizepräsidenten des
Bundesverfassungsgerichts und wurde Präsident des Deutschen Katholikentages.
Bellmann zeichnete als Vorsitzender des Sondergerichts in Prag für 110
Todesurteile gegen Widerständler verantwortlich, wurde dafür 1947 in Prag zu
lebenslanger Haft verurteilt. 1955 als nichtbegnadigter Verbrecher in die
Bundesrepublik abgeschoben, amtierte er 1956 bereits wieder als Direktor des
Landgerichts Braunschweig.
Bei der Eröffnung des Workshops in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand sprach
Gedenkstättenmitarbeiter Walter Bästlein eingangs über die immer noch
bestehenden Schwierigkeiten, das Thema NS-Vergangenheit bei den großen
juristischen Organisationen zum "normalen Thema" des Juristentages zu machen.
Die Scheu wird verständlich, summiert man den Inhalt der am vergangenen Freitag
gehaltenen Vorträge. Es ist immer noch nicht alles gesagt. Da steht zum ersten
zweifelsfrei fest, daß sich die Mehrzahl der deutschen Richter – sei es aus
Identifikation oder Karrierismus – in vorauseilendem Gehorsam der "Blut- und
Bodengesetzgebung" angedient hat. Für sie brachte 1933 das, was sie sich
wünschten (Hans Wrobel, Bremen). Über die Rolle der Staatsrechtler im NS-Staat
wird "anhaltend" geschwiegen (Joachim Perels, Hannover). Deutsche Richter mußten
nicht vergewaltigt werden, sie waren keine Opfer. Wesentlich war für sie das
"anti": antidemokratisch, antirepublikanisch, antibolschewistisch, auch
antisemitisch (Hubert Rottleuthner, Berlin).
Von Rottleuthner dürften zum Vortragsthema "Deutsche Richter und Staatsanwälte –
Karrieren im 20. Jahrhundert" noch einige Überraschungen zu erwarten sein. In
seinem hier erstmals vorgestellten und noch nicht abgeschlossenen
Forschungsprojekt sind nach Durchforstung der Kalender, Justizakten und
Unterlagen auch aus "dem roten Osten", darunter das "Braunbuch", bereits 20000
Juristen erfaßt. Sein Fazit: Die hohe Zeit der NS-Juristen begann auf den oberen
Justizebenen nach 1953 (!) und endete erst ab 1964. Ausgerechnet beim
Bundesgerichtshof habe es – "ein dickes Ei" – von 1954 bis 1964 eine
"Kontinuität auf konstantem Niveau" gegeben. Noch 1964 waren 71 Prozent der dort
tätigen Juristen ehemalige NS-Chargen.
Auf die DDR ist Rottleuthner in seinem Forschungsprojekt nicht
eingegangen. Grund: Ganz geringe Quantität. Im Diagramm nicht
einzufangen. "Das war dort wider die Doktrin." In der niedersächsischen
Ausstellung findet sich zum Thema NS-Juristen in der DDR die lakonische
Anmerkung: "Die DDR ging politisch und justiziell eigene Wege." In
diesem Sinne: Glück auf dem deutschen Juristentag 2000.
hagalil.com
19-09-02 |