Michel Friedmann in München:
Wann beginnt die Ermordung von Menschen?
Von Max Brym
Am Montag den 9. September 2002 führte die DGB-Jugend München und der
Landesverband ver.di Bayern eine Veranstaltung unter dem Motto "Gegen
den Antisemitismus" durch. Als Referent erschien Michel Friedmann vom
Zentralrat der Juden in Deutschland.
Der große Saal des Gewerkschaftshauses war bis auf den letzten Platz
besetzt. In seiner Einleitung zur Veranstaltung erklärte der Sprecher
der DGB-Jugend München: "Gerade die neuesten erschreckenden
Umfrageergebnisse bezüglich, des wachsenden Antisemitismus
macht diese Veranstaltung notwendig. Auch
die Gewerkschaften haben dieses Thema ernstzunehmen und nicht wie in der
Auseinandersetzung zwischen Michel Friedmann und Jürgen Möllemann ein
dezentes Schweigen an den Tag zu legen".
Wann beginnt die Ermordung von Menschen?
Mit dieser Fragestellung leitete Michel Friedmann seinen spannenden
Vortrag ein. Er stellte die Frage, ob nicht schon historisch gesehen,
mit der breit legitimierten Machtübernahme Hitlers 1933 die Ermordung
von Menschen begann. Die Ausrede, die er in den 60-er Jahren in
bundesdeutschen Schulen des öfteren von Mitschülern und zweifelhaften
Pädagogen hörte "Auschwitz habe ich nicht gewollt." erschien ihm damals
einerseits durchaus glaubhaft, andererseits inakzeptabel. Die Ermordung
von Menschen beginnt nach Friedmann zuerst verbal. Dies kann auch heute
beobachtet werden. Der tief verankerte Rassismus in der bundesdeutschen
Gesellschaft beinhaltet den Mord, 50000 wöchentlich verkaufte Ausgaben
der Nationalzeitung bereitet den Mord vor. Aber auch rassistisches
Geschwätz am Arbeitsplatz nach dem Motto "Der Bimbo soll den Dreck weg
machen." provoziert und fördert Mordgelüste. Der Rassismus, der
Antisemitismus ist nach Friedmann "Ein Verbrechen gegen die
Zivilisation." Es ist richtig so der Referent, daß bis dato in vielen
Gesellschaften in denen der Geist der Aufklärung noch nachwirkt, der
Rassismus als Verbrechen geächtet ist.
Der Antisemitismus und Rassismus betrifft alle
Friedmann zeichnete als Gesellschaftsbild einen Zustand in dem der
Mensch neugierig auf den anderen Menschen in seiner Individualität und
Kultur ist. Jede Gesellschaft die den Gedanken der Toleranz verwirft und
sich mit der Ausgrenzung einzelner Gruppen abfindet schädigt sich nach
den Worten des Referenten selbst. Dabei zitierte er den evangelischen
Pastor Niemöller, der die faschistische Realität und die Passivität der
Menschen wie folgt zusammenfaßte: "Zuerst holten sie die Kommunisten,
die Sozialdemokraten, die Juden ..." Friedmann beschrieb das Verhalten
der Menschen wie folgt :" damals bildeten sich einige ein, sie wären
nicht betroffen, weshalb sie nicht protestieren müßten und am Schluß gab
es keinen mehr, der protestieren konnte". Scharf ging der Redner nicht
nur mit dem weitverbreiteten Rassismus in der Bundesrepublik ins
Gericht, sondern mit der noch weiter verbreiteten Gleichgültigkeit bei
vielen Menschen. Wer sich nicht für den Anderen interessiert,
interessiert sich nach Friedmann auch nicht für sich selbst. Demzufolge
ist es angesagt, jeden Angriff auf eine Synagoge, jede rassistische
ausländerfeindliche Aktion sowie jeden rassistischen Spruch als Angriff
auf jeden freiheitsliebenden Menschen zu betrachten. Friedmann forderte
Zivilcourage, eine Kultur des Streits und des Widerstandes gegen
Antisemitismus und Rassismus. Dabei problematisierte Friedmann die
nichtssagenden Angleichung zwischen den
Politikern der großen Parteien. Er könne heute keinen großen
Unterschied mehr zwischen Otto Schilly und Günther Beckstein erkennen.
Im TV-Duell zwischen Stoiber und Schröder waren sogar die Krawatten der
beiden Kandidaten gleich. Eine Unterschiedlichkeit war kaum erkennbar,
eine wesentliche Differenz nicht herauszufiltern. Eine Kultur des
Streits, der klaren Positionierung war nicht vorhanden und schon gar
keine Stellungnahme gegen den in Deutschland grassierenden Rassismus und
Antisemitismus.
Was soll man tun?
Bei diesem Themenkomplex erinnerte Michel Friedmann an das Argument aus
den 60-er Jahren bezogen auf den Hitlerfaschismus, "Was hätten wir denn
tun können?". Dies sei eine Aussage, so Friedmann, die er damals und
schon gar nicht heute akzeptieren könne. Bewies doch beispielsweise die
Person Oskar Schindler, daß es in der Zeit der Hitlerbarbarei möglich
war, durch Mut und Charakter circa 1000 Juden zu retten. Schon gar nicht
sei es heute akzeptabel, wenn Leute, die vielleicht keine Rassisten
sind, die Frage stellen: "Was kann ich denn tun?" Jeder kann etwas tun
am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Familie. Man kann sich vor
Synagogen stellen, die Gefahr laufen, angegriffen zu werden, oder
beleidigende Äußerungen gegen Ausländer nicht hinnehmen etc. Genauso wie
es notwendig sein kann, sich gegen ausbeuterische Chefs zu stellen, was
eine gute gewerkschaftliche Tradition ist.
Ist Kritik erlaubt?
Michel Friedmann ging hart mit dem weinerlich wehleidigen
bundesdeutschen Antisemiten ins Gericht, der dauernd behauptet: "Er
dürfe Juden nicht kritisieren." Dazu erklärte der Referent, dieses
Argument beinhalte bereits den Antisemitismus, denn es ist überhaupt
kein Problem Michel Friedmann zu kritisieren und zu attackieren als
Person Friedmann. Inakzeptabel ist die Kritik an einer Person wenn diese
Kritik mit der jüdischen Abstammung, des Kritisierten verbunden wird,
wie es Jürgen Möllemann getan hat. Vor antisemitischen Stereotypen ist
auch ein Teil der bundesdeutschen politischen Elite nicht gefeit. So
berichtete Friedmann von Gesprächen mit einigen Ministerpräsidenten, die
ihm vorwarfen, "Warum die Juden immer Geld wollten?" und "Warum er so
gut deutsch spreche?". Gegen Ende seines mit viel Beifall begleiteten
Referats sprach sich Friedmann deutlich gegen den Begriff "Leitkultur"
aus. Diese Begrifflichkeit ignoriert die Unterschiedlichkeit der
Menschen, negiert das Individuum und propagiert ein uniformiertes
Gesellschaftsbild auf der Basis von Blut und Boden.
Debatte
Im Anschluß an das Referat entwickelte sich zwischen dem Publikum und
Michel Friedmann eine teils spannende Diskussion. Ein
Diskussionsteilnehmer fragte Michel Friedmann: "Warum er immer noch
Mitglied der CDU sei?". Darauf antwortete Friedmann, "Ich habe nach der
rassistischen Kampagne gegen den Doppelpaß des Herrn Koch in Hessen, die
hessische CDU verlassen und bin in den Landesverband Saarland der CDU
eingetreten. Das ist etwas, was mir Herr Koch bis heute übel nimmt, aber
es gibt schlimmeres im Leben, als von Herrn Koch angefeindet zu werden."
Zudem stellte Friedmann fest, auch in der SPD gibt es rechtslastige und
antisemitische Untertöne, nicht nur in der CDU. Diese Aussage wurde nur
von einem Teil des Publikums geteilt. Einig waren sich die Veranstalter,
das Publikum und der Referent am Ende der Veranstaltung, daß es
besonders wichtig sei, auf die neue Qualität des Antisemitismuses, als
einem neuen Bündnis zwischen Elite und Mob hinzuweisen. Insgesamt wurde
die Veranstaltung von einem Gewerkschaftsvertreter als Erfolg gewertet,
dabei unterstrich er die Notwendigkeit, in den Gewerkschaften mehr als
bis dato geschehen, den Antisemitismus und Rassismus zu attackieren.
hagalil.com
13-09-02 |