Israel ist unser Unglück:
Anti-Israelismus nach dem 11. September
Der erste manifeste Antisemitismus, der den
Holocaust nicht mehr leugnen muss
Von Günther Jacob
Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien in:
Konkret, Ausgabe/Nr. 08, August 2002
Staatsräson und nicht-öffentlicher Antisemitismus
In Deutschland und einigen anderen Staaten
stehen antisemitische Äußerungen und die Leugnung der Judenvernichtung seit über
fünf Jahrzehnten unter Verbot. Für die Nachfolgestaaten des "Dritten Reiches"
war dies Bedingung ihrer - zunächst eingeschränkten - Souveränität. Die
Relativierung oder gar Rechtfertigung der Entrechtung, Enteignung, Deportation
und Ermordung der Juden wurde dadurch zwar nicht unmöglich gemacht, aber
immerhin an der öffentlichen Artikulation gehindert. Während der "Antisemitismus
wegen Auschwitz" als latente nicht-öffentliche "Meinung" fortbestand, wurde
offiziell der Nationalsozialismus verurteilt, allerdings so, dass juristische
Konsequenzen für die große Mehrheit der Täter und willigen Helfer damit nicht
verbunden waren. Gegen "die Juden":
Die nazistische Subversion der Staatsräson
Diese Konstellation hat die diskursiven Strategien des Antisemitismus und auch
seine psychische Tradierung nicht unverändert gelassen. Das Verbot öffentlicher
antisemitischer Äußerungen hat dazu geführt, dass die fortbestehende
gesellschaftliche Kommunikation antisemitischer Sinnstrukturen, die ihre Dynamik
zuerst aus der Abwehr der von den Alliierten und den Überlebenden erhobenen
Schuldvorwürfe gewann, neue Sprechräume, Bedeutungen und symbolische Praktiken
hervorbrachte.
Am besten dokumentiert und kommentiert ist in diesem Zusammenhang die situative
Anspielungskunst des Österreichers Jörg Haider, der es besonders virtuos
versteht, öffentlich den Nationalsozialismus zu loben und Juden zu schmähen,
ohne dafür wirkungsvoll juristisch belangt werden zu können - zum Beispiel so:
"Daß es möglich war, unsere Heimat aus den Trümmern des Krieges wieder
aufzubauen und zu materiellem Wohlstand zu führen, ist dieser Kriegsgeneration
zu verdanken - einer Generation, die ständigen Verunglimpfungen ausgesetzt ist.
Das Soldatentum wird in bestimmten Kreisen beschimpft und besudelt."
(Haider anlässlich einer Kranzniederlegung für die "Gefallenen beider
Weltkriege", November 1986)
Die Wut, dass man nicht "alles sagen kann" vereint Haider und sein Publikum. Im
Konkurrenzkampf um die Macht sucht Haider das Bündnis mit dem völkischen Mob,
der den Repräsentanten der Staatsräson einen undemokratische Umgang mit dem
Volkswillen vorwirft. Die Verhöhnung der Opfer des Holocaust und des
Vernichtungskrieges in dieser und in anderen Reden Haiders (etwa über die
"ordentliche Beschäftigungspolitik im Dritten Reich") wird hier als ein
lustvoll- aggressives, performatives Spiel mit Bekenntnissen, Verleumdungen,
Distanzierungen und der Empörung über den "Verdacht" und die "Missverständnisse"
inszeniert, wobei zugleich neue Räume des wieder Sagbaren ausgelotet werden.
Solch indirektes Sprechen ist eine der charakteristischen Äußerungsformen des
Antisemitismus nach Auschwitz. Gegen
Israel: Die liberale Subversion der Staatsräson
Eine ähnliche sprachliche Performanz lässt sich auch in den aktuellen
öffentlichen Äußerungen liberaler Provenienz zum "Nahost-Konflikt" beobachten.
Im Berliner "Tagesspiegel" kommentiert der Redakteur Harald Martenstein den
Aufsatz "Wieder einmal allein" von Richard Chaim Schneider so:
"´Wieder einmal allein´ hieß vor ein paar Tagen ein Text in der "Süddeutschen".
Der Titel sagt alles. Viele Israelis und deutsche Juden klagen, im Zusammenhang
mit der Israel-Berichterstattung in Deutschland, über Antisemitismus. Kritik an
der israelischen Regierung und der israelischen Politik sei selbstverständlich
erlaubt, heißt es dann meistens. Aber wo genau verläuft die Grenze zwischen
legitimer Kritik und antisemitischer Schmähung? Das wird nie gesagt. Ist es
antisemitisch, zu sagen: "Israel verletzt die Menschenrechte"? Obwohl man es im
israelischen Fernsehen sehen kann? (...) Nicht nur in Israel, auch in
Deutschland ist die Erinnerung an den Holocaust heute ein Teil der Staatsraison.
Man kann nicht Deutscher sein, man kann in Deutschland nicht aufwachsen, ohne
sich immer wieder dieses finsteren Erbes bewusst zu werden.(...) Aber die
Deutschen von heute haben auch ein Recht darauf, dass man sie nicht mit ihren
Großeltern oder Urgroßeltern verwechselt. Schuld vererbt sich nicht. Täter zu
sein, Opfer zu sein - liegt das etwa in den Genen eines Volkes? Wer das
behauptet, ist ein Rassist. Deswegen ist es infam, leichtfertig mit dem Vorwurf
des Antisemitismus umzugehen. (...) "Wieder einmal allein": Dieses "wieder"
stellt eine Verbindung her zwischen den Verbrechen an den Juden und der heutigen
Situation in Israel und Palästina. (...) Im Fernsehen hat Paul Spiegel, der
Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, sich zu der Idee des
Bundeskanzlers geäußert, deutsche Soldaten an einer Friedenstruppe im Nahen
Osten zu beteiligen. Diese Idee ist wahrscheinlich nicht besonders gut - aber
wie begründete Spiegel seine Ablehnung? Er sagte, der Holocaust sei "erst" 57
Jahre her, man könne den "Anblick" deutscher Soldaten (in UN-Uniformen!) den
noch lebenden Naziopfern nicht zumuten. Es sind Zwanzigjährige, über die da
geredet wird. Sie haben niemandem etwas getan, aber ihr "Anblick" ist
unzumutbar. Weil sie Deutsche sind."
Antisemitismus und Anti-Israelismus
"Man darf ja gegen die Juden heute nichts sagen." Das ist das gemeinsame
antisemitische Phantasma des Nazis und des Liberalen. Beide machen aus
dem Verbot antisemitischer Äußerungen ein antijüdisches Argument. Anders
als Haider billigt Martenstein jedoch die Erinnerung an den Holocaust
und die Anerkennung des Existenzrechtes Israels als Bestandteile der
Staatsraison. Für den Liberalen ist die Verurteilung des
Nazi?Antisemitismus geradezu die Voraussetzung einer Kritik an Israel,
die hier nicht auf dessen Abschaffung, sondern auf die Beseitigung
besonderer Rücksichten gegenüber Israel zielt. Die Frage nach der Grenze
zwischen legitimer Kritik und antisemitischer Schmähung stellt er in der
Überzeugung, dass das vereinte Deutschland sich durch die "Bewältigung
der Vergangenheit" inzwischen das Recht auf Kritik an Israel erworben
hat. Der moderne Anti-Israelismus
schließt demnach zwar am primären (negative Darstellung der Juden) und
sekundären (Relativierung des Holocaust, Täter-Opfer-Umkehr)
Antisemitismus an, unterscheidet sich von allen früheren
Kommunikationsweisen des Antisemitismus jedoch durch sein Bekenntnis zu
den historischen Fakten des Holocaust. Dabei bezieht sich der moderne
Anti-Israelismus positiv auf die Universalisierung (und damit
Christianisierung) des Holocaust zum Archetyp des Unbeschreiblichen. Er
nutzt diese Metaphorisierung des Judenmordes zur Trennung von Holocaust
und Antisemitismus und verknüpft das medial globalisierte
Holocaustgedenkens mit dem interventionistischen Menschenrechtsdiskurs.
Damit fügt der moderne Anti-Israelismus der an außenpolitischen
Rücksichten orientierten staatlichen Vergangenheitspolitik ein aktives
Moment hinzu. Der neue Diskurs beschränkt sich nicht darauf, die
"Ewiggestrigen" auf Distanz zu halten, er schafft vielmehr einen neuen
öffentlichen Sprech- und Erzählraum für eine neue Bedeutungssuche. Statt
mit den historischen Fakten zu feilschen wie die Revisionisten, zielt er
auf die Isolierung der Ereignisse und ihre Neuinterpretation - nach dem
Modell: "Die deutsche Besatzungspolitik in Polen erklärt teilweise die
Aussiedlung der deutschen Bevölkerung und die damit einhergehenden
Übergriffe, aber sie rechtfertigt sie nicht. Unter Historikern ist es
selbstverständlich, dass der Zusammenhang aus Besatzung und Vertreibung
zur Erklärung, nicht aber zur Entschuldigung dient." (Dokumentation der
Konferenz: Gedächtnis - Deutsche und Polen im Gedenkjahr 1995).
Die auf diesem Boden entstandene "Vergangenheitsbewältigung" neuen Typs,
die stolz auf ihren Standortvorteil verweist ("Es kommt nicht häufig
vor, dass Völker sich ihren eigenen Verbrechen stellen. Im
internationalen Vergleich kann sich da Deutschland durchaus sehen
lassen", sagt der Historiker Hans-Ulrich-Wehler), findet schließlich in
der Israel-Kritik ein Feld, auf dem die nun beanspruchte ethische
Wahrhaftigkeit gegen jene ausgespielt werden kann, die dieser
Inszenierung mit ihrer ganz anderen Erinnerung immer noch im Wege
stehen. Es war daher abzusehen, dass mit dem scharfen Ton der neuen
Selbstgerechtigkeit auch die Metaphern des primären Antisemitismus in
den öffentlichen Raum zurückkehren würden - verkleidet als politische
Kommentare zur Situation im Nahen Osten.
Voraussetzungen des neuen Anti-Israelismus
Der neue Anti-Israelismus hat eine lange Vorgeschichte. Weder wurde er geplant,
noch ist er ganz spontan entstanden. Er erwuchs aus dem nie aufgegeben Streben
nach Relativierung der deutschen Schuld und dem Willen, als "normale" Nation
anerkannt zu werden. Seine wichtigsten Stationen waren:
1. Die "Arisierung" der Erinnerung
Mit der Wiedervereinigung endete die Zeit der Leugnung und der "Verdrängung"
genannten offenen Abwehr von Schuldvorwürfen. Statt nur monoton immer wieder
einen Schlussstrich zu verlangen, begann man sehr eigenwillige deutsche Lehren
aus dem Holocaust zu ziehen. Die Avantgarde
stand auch diesmal links: Schon in den frühen 80er Jahren hatten
Feministinnen die BDM-Lieder singenden Mütter und Großmütter als Opfer
des Nationalsozialismus, des Krieges und der Besatzung identifiziert.
Zugleich entstand die sogenannte Väterliteratur (etwa Christoph Meckel:
Suchbild. Über meinen Vater, 1980), die den Vernichtungskrieg durch
Themenwechsel entwirklichte, durch die Klage, Opfer der Vätergeneration
geworden zu sein. Dann entdeckten Antirassisten in Türken und Muslimen
die Juden von heute. Indem man "Jude" zum Synonym für alle Minderheiten
machte, brachte man die wirklichen Juden zum Verschwinden. Aus ihren
wirklichen Verfolgern wurden erst "Zeitzeugen" und "Überlebende des
Zweiten Weltkrieges" mit allen ihren hochinteressanten "Erinnerungen,
die vorher kaum einer hören wollte" (Wehrmachtsaussteller Jan Philipp
Reemtsma) und schließlich Opfern: "Auch ich habe mich gefragt, ob mein
am 30.Dezember 1941 vor Moskau gefallner Vater wusste, wessen Opfer er
war" (Friedrich Kahlenberg im "Mittelweg").
Die Deutschen fanden heraus, dass man mit Juden am besten leben konnte, wenn man
sie ins Museum steckte. Jüdische Friedhöfe wurden ausgegraben, Gedenkbücher
angefertigt, Denkmäler gebaut, Reisen nach Auschwitz unternommen, die
Wehrmachtsausstellung durchs Land geschickt, die Tagebücher von Klemperer
besprochen und vieles mehr. Dann kam Goldhagen. Während die "Fachkritik" und
Schirrmacher in der "FAZ" vor einer neuen Kollektivschuldthese und Frau Dönhoff
vor einer "Neubelebung des mehr oder weniger verstummten Antisemitismus"
warnten, war die Mehrheit 50 Jahre nach dem Holocaust bereit, zum Dank dafür,
dass Goldhagen der Bundesrepublik attestierte, den Antisemitismus endgültig
überwunden zu haben, die hässliche Wahrheit zu akzeptieren, dass die Mörder aus
der Mitte der Gesellschaft gekommen waren. An diese Einsicht konnte nun mit der
identifikatorischen Frage 'Wie hätte ich damals gehandelt?' angeschlossen
werden. Eine neue Rhetorik der Einfühlung ermöglichte den Erben die persönliche
Anteilnahme am "Schicksal" der Alten. Verkleidet in die Sprachbilder der
"Gedenkkultur" einigten sich die Söhne und Töchter der Tätergeneration hinterm
Rücken der Opfer mit ihren Vätern und Müttern.
Am 11. Oktober 1998 hielt Martin Walser in der Frankfurter
Paulskirche seine
Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.
In dieser Rede sagt er u.a.: "Auschwitz eignet sich nicht, dafür
Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel
oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung
zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen
Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz
normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?"
Bei all dem wurde die auch von Walser formal respektierte Staatsräson, wonach
"kein ernstzunehmender Mensch" Auschwitz leugne, stets beachtet. Das dem
Bekenntnis aber unvermeidlich nachfolgende Aufbäumen gegen die Beschränkungen
deutscher Beweglichkeit und Begehrlichkeit, folgt einem Muster, das erstmals
1985 in einer Rede Richard von Weizsäckers vorgeschlagen wurde: "Das Geheimnis
der Erlösung heißt Erinnerung". Dessen Pointe besteht darin, dass sie Israel ben
Elieser, dem Begründer des Chassidismus, entwendet ist. Mit diesem Zitat verhält
es sich wie mit der Wendung, mit der Deutsche gerne den selbsterfundenen Vorwurf
der "Kollektivschuld" kontern: "Wenn alle schuldig sind, ist es keiner". Hannah
Arendt hatte 1964 mit diesem Satz auf Hans Magnus Enzensberger und dessen
Behauptung geantwortet, dass "der Faschismus nicht schrecklich ist, weil die
Deutschen ihn ausübten, sondern weil er überall möglich ist". Beide Zitate, das
von Israel ben Elieser und das von Hannah Arendt, verändern ihre Bedeutung in
dem Moment grundlegend, da sie von Deutschen vereinnahmt werden. In dem einen
Fall wird das Erinnern zur Erlösung von Beschuldigungen, in dem anderen wird der
Kreis der Verantwortlichen wieder auf "die Nazis" eingeengt.
2. Der Gewinn moralischer Überlegenheit
Die seit dem 11. September verschärften Anklagen gegen Juden und Israel
aktualisieren inzwischen viele altbekannten völkischen Phantasien über jüdische
Verbrechen, Kindermorde, verführte Jungfrauen (jetzt wieder im neuen
Walser-Roman), sadistische Exzesse und internationale Verschwörungen. Doch jeder
dieser antisemitischen Äußerungen geht heute die Beteuerung voraus, dass man
sich, politisch korrekt, intensiv mit "KZ und Faschismus" beschäftigt habe.
Diese Tour de force einer "gründlichen Aufarbeitung der Vergangenheit", die man
sich angeblich zugemutet hat, erlaubt es nun, aus einer Position moralischer
Überlegenheit mit den Juden Tacheles zu reden - wie Martin Walser, als er 1998
zu Ignatz Bubis sagte: "Herr Bubis, da muss ich Ihnen sagen, ich war auf diesem
Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt".
Der Flakhelfer vom Bodensee, dem es um Selbstrechtfertigung und die
Rechtfertigung der NSDAP-Mitgliedschaft der eigenen Mutter geht, greift
unmittelbar deutsche Juden als Störenfriede seiner Erinnerung an. Bei anderen,
die mehr der Zukunft zugewandt sind, verknüpft sich das Wissen über "KZ und
Faschismus" und die Sehnsucht nach einer selbstbewussten Nation, die auch
militärisch in der Welt wieder eine "ganz normale Rolle" spielt, auf etwas
andere Weise: Sie bevorzugen den indirekten Weg über die Israel-Kritik. Das bloß
metaphorische "Wissen" über den Nationalsozialismus (was etwa
"Vernichtungskrieg" zwischen 1941 und 1945 genau bedeutete, will man gar nicht
wissen oder schnell wieder vergessen), verbindet sich hier häufig mit wohlfeilen
antirassistischen Bekenntnissen ("gegen Rechtsextremismus und
AusländerIinnenfeindlichkeit") und kulturalistischem
Menschenrechtsimperialismus. Im Kosovokrieg wurde daraus die Relativierung des
Holocaust zur "ethnischen Säuberung", eine Interpretation, die dem deutschen
Gedächtnis absolut entspricht, weil sie anschlussfähig ist für das deutsche
Thema von Flucht & Vertreibung (das mit Günter Grass jetzt seinen legitimen
Erzähler gefunden hat) und die zugleich eine "Europäisierung der Erinnerung",
d.h. eine Thematisierung der "Verbrechen der anderen" ermöglicht. Die "Lehre aus
Auschwitz" heißt nun: "Nie wieder wegsehen, wo Unrecht passiert!" (Ministerin
Wieczorek-Zeul, SPD), in ihr kommen nicht nur keine jüdischen Opfer deutscher
Täter mehr vor, sie adelt auch die Kritik an Israel und die Parteinahme für
dessen Gegner zu einem Signum unbestechlicher moralischer Konsequenz.
3. Die Erfindung von "Vergangenheitsbewältigung"
In Wahrheit haben sich die meisten ihre Auseinandersetzung mit der
Tätergeneration frei erfunden. Autoren, die damals noch zur Schule gingen,
phantasieren in Beiträgen zur "Vertriebenendebatte" öffentlich über Stationen
ihres ganz persönlichen Widerstandes gegen die deutsche Kontinuität, der
vielleicht nur darin bestand, dass sie in einem dritten Programm eine
Wiederholung der "Ermittlung" von Peter Weiss gesehen haben. Die Mehrheit der
Jungen weiß bis heute nicht, wo genau im "Osten" die Alten damals eingesetzt
waren und was sie dort taten. Doch die meist frei erfundene Auseinandersetzung
mit der Tätergeneration ist die Lizenz zum Relativieren. "In dieser Breite und
Tiefe hat eine aufklärerische Selbstverständigung über die Untaten der
nationalen Vergangenheit nirgends stattgefunden. Wer diese offenkundige
zivilisatorische Leistung ignoriert, muss sich nach seinen Motiven fragen
lassen" schreibt die "Frankfurter Rundschau", um zur Moral und zeitgemäßen
Nutzanwendung zu kommen: "Weil diese Erinnerungsarbeit inzwischen geleistet
wurde, kann Deutschland nun auch seine eigenen Wunden zeigen." Genau diese
Wendung war mehr oder weniger bewusst schon intendiert, als man die Leitlinie:
"Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung" ausgab.
4. Die Täter-Opfer-Umkehrung neues Typs
Zwischen dem "alten" Revanchismus Jörg Haiders, der auch in Deutschland
nicht verschwunden ist und dem Kommentar im liberalen "Tagesspiegel"
liegen, wie wir heute erkennen können, zwei Jahrzehnte
"zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur". Ermöglicht wurde diese
durch ein Bekenntnis zur deutschen Schuld in der Plotstruktur des
historischen Dramas, eines Genres, dem Identifikation, Katharsis und das
"Trauma" eingeschrieben sind. Auf diesem Weg wurde eine
Täter-Opfer-Umkehr neues Typs möglich, die sich vom herkömmlichen
Revanchismus grundlegend unterscheidet und am Ende doch zu gleichen
Forderungen kommt: Nach einer Emnid-Umfrage vom Februar plädieren 72
Prozent der Befragten dafür, das Holocaust-Denkmal in Berlin allen
Opfern des Nationalsozialismus zu widmen, auch den gefallenen deutschen
Soldaten. Diese Gleichstellung von
Tätern und Opfern, die den Holocaust, entsprechend der Staaträson, nicht
mehr leugnet, sondern ihn als Drama inszeniert, in dem auch die
Deutschen als Oper erscheinen, war in Walsers "Friedenspreisrede" im
Jahr 1998 noch vor allem gegen "deutsche Bürger jüdischen Glaubens"
gerichtet. Inzwischen erprobt sie ihr Potential bevorzugt am "Fall
Israel" mit einer nie gekannten Heftigkeit. Neue Gelegenheiten, um sich
aus dem Sonderverhältnis zu Israel zu lösen, boten verschiedene, sich
gegenseitig verstärkende und gegen Israel gerichtete weltpolitische
Ereignisse: Die zweite Intifada, die Anti-Rassismus-Konferenz in Durban,
der 11. September und die auf die Selbstmordattentate reagierende
"Operation Schutzwall" der Israelischen Armee. Seither haben die
Bemühungen, Israel als rassistischen und sogar faschistischen Staat zu
delegitimieren, ganz neue Dimensionen angenommen. Israel wird zum Land
der Täter. Sharon ist Hitler, die Israelis benutzen "Nazi-Methoden",
führen einen "hemmungslosen Vernichtungskrieg", aus Juden werden Nazis.
Mit dieser Erprobung der Täter-Opfer-Umkehr an Israel (die "jüdische
Lobby in den USA wird stets mitgedacht) werden erstmals - ins Politische
gewendete - offen antisemitische Äußerungen möglich, ohne dass man die
Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in der Zeit des
Nationalsozialismus leugnen muss. In der Anwendung von Nazi-Vergleichen
auf Israel kollabiert die Universalisierung des Holocaust zur
Generalmetapher für "Rassismus und Menschenrechtsverletzungen", die
Metaphern des Holocaust werden zur Waffe gegen die Holocaust-Opfer und
ihre Nachkommen. Dieser
Anti-Israelismus hat einen anderen diskursiven Hintergrund und eine
größere Wirkungsmächtigkeit als der gesellschaftlich marginale linke
Anti-Zionismus der 70er Jahre oder die (damals vom Westen verurteilten)
Vergleiche Israels mit dem nationalsozialistischen Deutschland in der
SED-Propaganda. Die Gefahr des aktuellen Anti-Israelismus besteht zum
einen in seiner unmittelbaren Auswirkung auf die Sicherheit Israels
(EU-Gelder für Israels Gegner, Boykottdrohungen). Seine spezifische
Aggressivität besteht jedoch in dem Versuch, den Juden die "Verfügung"
über die "Lehren aus Auschwitz" zu entwinden, deren bedeutendste die
Gründung Israels war. Mit der
Gründung Israels wurde Antisemitismus geopolitisch
"Ich wünschte, ihr könntet uns sehen, die Überlebenden und die Soldaten der
Israelischen Armee, hier in Sachsenhausen, dem Ort der Vernichtung bei Berlin."
(Ehud Barak am 22. September 1999 in der Holocaust-Gedenkstätte
Sachsenhausen.) Die zutreffende
Unterscheidung zwischen nazistischem Antisemitismus und Antisemitismus
nach Auschwitz vernachlässigt oft eine Veränderung, auf die der
Antisemitismus nach dem Holocaust reagieren musste: Die Gründung Israels
am 14. Mai 1948. Denn mit Israel und seiner Auseinandersetzung mit der
arabischen Welt tritt ein ganz neues Element auf, weil Israel und die
internationalen jüdischen Organisationen ("Diaspora" bedeutet seither
etwas anderes) als Repräsentanten "der Juden" wahrgenommen werden. Vor
allem: Mit der Gründung Israels wurde der alten "innenpolitischen"
Dimension des Antisemitismus (als "Judenfrage" einzelner Länder) eine
neue außenpolitische - eben die Beziehung zu Israel - hinzugefügt. Zudem
verdichtete sich die vormals unterstellte "jüdische Ungebundenheit" nun
zu einer Semantik, die sich analog zum Eigenbild der europäischen
Staaten als eine Verbindung von Volk & Nation begreifen lässt. Der
antisemitische Wahn einer "ethnischen" Grenzziehung zwischen Juden und
Nichtjuden hat mit Israel ein geopolitisches Objekt erhalten und den
Antisemitismus zunächst um die Facette des (älteren, noch als Streit um
die "nationale Frage" auftretenden) Antizionismus und schließlich des
(inzwischen in Namen des "Weltfriedens" agierenden) Anti-Israelismus
erweitert.
Dem "Wir-Kollektiv" der Deutschen ermöglichte die Gründung Israels - trotz der
Ressentiments gegen "Wiedergutmachungsforderungen" - eine als entlastend
wahrgenommene staatliche Gleichstellung. Die Existenz Israels erinnert die
Deutschen einerseits an Schuld, andererseits begrüßte man diese "Lösung", als
sei der Madagaskarplan doch noch verwirklicht worden, zumal nun noch weniger
Überlebende nach Deutschland zurückkehrten und man Hunderttausende nach 1945 in
Deutschland lebenden jüdische "Displaced persons" los wurde. Mit den zu Israelis
gewordenen Juden ließ sich zunächst viel "unbefangener" verkehren als mit den
"deutschen Bürgern jüdischen Glaubens". Der diese Erleichterung kommunizierende
deutsche Philosemitismus bestimmte dann auch bis zum Libanon-Krieg die Rhetorik
der westdeutschen Israel-Politik.
Nach einer Untersuchung von Werner Bergmann und Rainer Erb (Antisemitismus in
der Bundesrepublik Deutschland. Opladen 1991), lassen sich im deutschen
Israelbild fünf Dimensionen unterschiedlicher Bedeutung konstatieren. 1. eine
negative Einstellung zur Abhängigkeit Israels von den USA. 2. die Anerkennung
der Leistungen Israels auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. 3. die
scharfe Kritik an der israelischen Politik. 4. die Ablehnung von
Entschädigungsforderungen und israelischer Mahnungen, die Vergangenheit nicht zu
vergessen. 5. die Auffassung, Israel sei ein Staat wie jeder andere.
Hinzufügen wäre eine sechste Dimension: Das Anlegen besonders strenger
moralischer Maßstäbe an Israel als Versuch, die israelisch-jüdische
Kritik an Deutschland im allgemeinen und den deutschen Umgang mit dem
Judenmord im besonderen zu kontern. Anti-Israelismus als neue Form des
Antisemitismus ist vor allem daran zu erkennen, dass Israel härter
beurteilt wird als andere Staaten. Das ist z.B. dann der Fall, wenn die
israelische Besatzungspolitik negativer beurteilt wird als die
militärische Bedrohung Israels und die antisemitische arabische
Propaganda. Explizit antisemitisch ist zudem die Ablehnung jüdischer
Gemeinden im Westjordanland, wo solche Gemeinden lange vor der Gründung
Israels bestanden haben. Die Selbstverständlichkeit, mit der trotz der
Vertreibung von 800.000 Juden aus den arabischen Ländern heute ein
"judenfreies" Westjordanland gefordert wird, während in Israel über 1
Million Araber leben können, ist bezeichnend.
Israel und die Juden als metaphysisches Zentrum der Weltkonflikte
Wie konnte es zu dieser Radikalisierung des Anti-Israelismus kommen? Die Antwort
liegt nicht nur in latenten subjektiven Dispositionen, sondern im Bereich neuer
objektiver Möglichkeiten. Nachdem man die
Möglichkeiten einer legitimen, über den Verdacht des Antisemitismus
erhabenen und mit Erinnerungskultur geadelten Kritik jüdischen
Verhaltens an innenpolitischen Debatten (Entschädigungsforderungen,
Holocaust-Gedenkstätte) erprobt hatte, zeigte sich anlässlich der
Al-Aksa-Intifada, dass die "politische" Kritik an Israel weitaus
effektiver, in der Form "unideologischer" und daher konsensfähiger ist.
Aber erst am 11. September 2001 wurde mit der Formel von der "Spirale der
Gewalt" das einprägsame Bild gefunden, dem zufolge Israel der Ausgangspunkt
einer Entwicklung ist, an deren anderen Ende der World Trade Center explodierte,
der Afghanistankrieg begann und überhaupt die Welt aus den Fugen geriet. Seit
dem 11. September werden jüdische Menschen und Einrichtungen überall in Europa
zu Zielen des Protests gegen die Politik Israels. Die Grenze zwischen
Antisemitismus und Antizionismus ist endgültig gefallen.
Israel und die Juden der Diaspora sind nicht die Ursache der vielen politischen
und militärischen Auseinandersetzungen seit dem Zerfall des Ostblocks, aber sie
werden, wie Jonathan Rosen in der "New York Times" schrieb, "auf mysteriöse und
verstörenden Weise hier ins Zentrum gerückt" - entsprechend dem Bild, das vor
allem der nationalsozialistische Antisemitismus von den Juden "wahr gemacht"
hat.
Die wachsenden Auseinandersetzungen zwischen Europa und der USA, die
europäische, russische und arabische Unzufriedenheit mit der amerikanischen
Dominanz, in all das wird Israel massiv hineingezogen und dafür verantwortlich
gemacht. Obwohl es an Krisenherden auf der Welt nicht mangelt, wird der
"Nahostkonflikt" zum Zentrum des strategischen Kräftemessens zwischen USA und
Europa stilisiert. "Objektiv" ist er das keineswegs. Die Auseinandersetzungen
zwischen Israel und den Palästinensern haben die Welt nicht immer in diesem
Ausmaß interessiert. Als es den Ostblock noch gab und Israel zum Westen gehörte,
hätte eine Skandalisierung "israelischer Untaten" bei den bürgerlichen Parteien
Europas keine Chance gehabt. Jetzt aber sieht man in Europa die Möglichkeit, die
USA, mit denen man sich noch lange nicht direkt anlegen kann, an einem schwachen
Punkt zu treffen - als letzte Schutzmacht Israels, die sich darüber und mit
europäischer Förderung immer mehr Feinde macht und dadurch in ihren hegemonialen
Ambitionen sichtbar behindert wird. Die unter Amerikanern darüber selbst
aufkommende Unzufriedenheit erscheint aus europäischer Sicht als gute
Gelegenheit, um mittels verdeckter Anklage der dortigen "jüdischen Lobby" in den
USA selbst antisemitische Stimmungen zu fördern, den innergesellschaftlichen
amerikanischen Konsens aufzuweichen, den Konkurrenten also zu schwächen.
Am 12. September 1944 schrieb Max Horkheimer an Isaac Rosengarten, dass die
Juden von ihren Gegnern "zum Brennpunkt der Weltgeschichte" und zum "Stigma der
heutigen Welt, deren Ungerechtigkeit geballt auf den Juden lastet", gemacht
werden. Jetzt ist es Israel, das zum Brennpunkt der Weltgeschichte erklärt wird,
zum Stigma der heutigen Welt. Wie damals werden die Juden als Unruhestifter
dargestellt, die die Welt in dramatische Konflikte oder gar in den nächsten
Weltkrieg hineinziehen. Die friedenspolitische, antifaschistische und
antirassistische Anti-Israel-Rhetorik, deren Figuren zuvor am antifaschistisch
legitimierten Jugoslawien ausprobiert wurden und derzeit auch an Tschechien, das
dem deutschen Revanchismus widersteht, wird damit zu einem kulturellen Code.
Israel ist das Symbol für die "Globalisierung", die Ungerechtigkeit auf der
Welt, Israel ist der Grund für die "transatlantische Entfremdung", für den
"Unilateralismus" der Amerikaner, den Afghanistankrieg und vieles mehr. Dadurch
verdichtet sich die Israel-Kritik zu einem Ethos, zu einem zentralen Element
einer bestimmten moralischen Perspektive auf die Welt.
An dem sogenannten Nahost-Konflikt macht sich ein kultureller Gebrauch des
Antisemitismus fest, der sich, weil er offiziell nicht zulässig ist, eine
politische Form geben muss. Mit der Stellung zu Israel können Freund und Feind
sofort und eindeutig unterschieden werden. Erst durch diese symbolische Funktion
erhält die Israel-Kritik - von links bis rechts - ihre dramatische Dynamik und
überdeterminierte Leidenschaft, die in kürzester Zeit moralische und politische
Barrieren hinwegfegte, die angesichts der Erinnerung an den Holocaust (und auch
nicht zuletzt wegen der bis 1990 gültigen allgemeinen Anerkennung der Ergebnisse
des Krieges gegen Nazi-Deutschland) ein halbes Jahrhundert gültig waren.
Deutschland als Zentrum der antisemitischen "Vergangenheitsbewältigung"
"Du sollst nicht morden"
(Vorschlag des Theologen Richard Schröder, SPD, für eine Inschrift in
hebräischer Schrift am Holocaust-Mahnmal in Berlin)
Der demokratische Rechtsnachfolger des "Dritten Reiches" hat den
Nachweis erbracht, dass man einen Massenmord relativ folgenlos begehen
kann. Dass ausgerechnet Deutschland innerhalb von 50 Jahren als einziger
wirklicher Sieger aus der Weltkatastrophe hervorgegangen ist, musste
Antisemiten ermutigen. Dass Deutschland nach all dem Grauen in kurzer
Zeit wieder reich und mächtig wurde, erfüllt seine Bürger mit Genugtuung
und ist zugleich Quelle neuer Relativierungen der Vergangenheit,
endloser Normalisierungs-Vorhaben und neuer Maßlosigkeit. Das
Ungeheuerliche ist daher auch durch die öffentlichen Formen des
Holocaust-Gedenkens nicht in die Menschen eingedrungen. Der kollektive
Narzissmus, der 1945 beschädigt, aber nicht zerstört war, wurde 1990
wieder ebenso mobilisiert wie die schwelende Identifikationen mit den
imperialistischen und revanchistischen Ambitionen.
Das neue Deutschland will ausdrücklich "unbefangener" sein. Zu viele wollten das
schlechte Gewissen der Deutschen ausnutzen und sähen es gerne, wenn Deutschland
weiterhin gebückt durch die Weltgeschichte ginge. Träger solcher
Normalisierungswünsche sind auch viele Junge, die in die "Berliner Republik"
hineingewachsenen und mit Gedenkstättenbesuchen bestens vertraut sind. Für sie
stellt eine historisch statt nur außenpolitisch begründete Haltung zu Israel
eine nicht mehr tagfähige Grundlage dar. Wenn schon, dann sollte Israel
Deutschland nur näher stehen, weil es die einzige Demokratie im Nahen Osten ist,
an die dann allerdings gerade deshalb der Maßstab der Menschenrechte angelegt
werden muss, der "ethnische Säuberungen" bekanntlich nicht legitimiert.
Der Topos der Normalisierung hat seit der politischen Veränderung von
1989/90 Rückenwind. Er nährt sich aus der normativen Kraft des
Faktischen: Deutschland ist ein normaler in die EU eingebundener
Nationalstaat wie andere auch. "Was deutsch ist" kann nun klipp und klar
definiert werden: "Zum erstenmal, seit Ernst Moritz Arndt die Frage
stellte: ´Was ist des Deutschen Vaterland?´ kann diese Frage sehr
schlicht beantwortet werden: Dieses Land ist es." (Johannes Gross:
Begründung der Berliner Republik). Die Details werden in hitzigen
Debatten über Doppelstaatsbürgerschaft und durch Angriffe auf jene, die
nicht dazu gehören wollen oder sollen, geregelt.
Am 13.02.1999 führte Rudolf Scharping
(SPD), damals Verteidigungsminister der BRD, 160 uniformierte Bundeswehrsoldaten
durch die Gedenkstätte Auschwitz. Es war der erste Besuch einer Abordnung der
Bundeswehr an diesem Ort des Gedenkens an den millionenfachen deutschen Mord an
den europäischen Juden. Scharping nutzte diesen Besuch, um die bevorstehende
deutsche Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien als „Lehre aus
Auschwitz“ zu legitimieren.
Er sagte: "Darum ist die Bundeswehr in Bosnien" und darum wird sie "wohl auch in
den Kosovo gehen". Im
DEUTSCHEN ALLGEMEINEN SONNTAGSBLATT vom 19.2.1999 heißt es dazu:
„Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping bekannte sich gemeinsam mit
seinem polnischen Amtskollegen in der winterlichen Gedenkstätte von
Auschwitz-Birkenau offen zu "den Lehren aus Auschwitz": Man dürfe nicht
wegsehen, wenn in der Gegenwart Massaker, Menschenrechtsverletzungen und
"ethnische Säuberungen" drohten - wie derzeit im Kosovo.“
Im Januar 1996 wurde erstmals die Möglichkeit einer Stationierung deutscher
Soldaten als Teil einer UNO-Friedentruppe auf den Golanhöhen sondiert. Mitte
1998, die Klagen von Zwangsarbeitern vor US-Gerichten gegen deutsche Konzerne
wurden im deutschen Feuilleton mit Kritik an der "Holocaust-Industrie" der USA
gerächt, da entdeckte die "FAZ" ein besonderes Defizit: "Es gibt bis heute keine
literarische Verarbeitung der Vertreibung: die Literatur weiß nichts von den
Okkupationsjahren des Ostens durch die Rote Armee". Im Frühjahr 1999 zog der
Bundestag in den Reichstag und die Bundeswehr in den Angriffskrieg gegen
Jugoslawien, dessen Regierungssystem Joschka Fischer als "eine rohe, barbarische
Form des Faschismus" charakterisierte. Der Imperativ "Nie wieder Krieg von
deutschem Boden aus" wurde mit dieser Lüge in einen Gegensatz zu "Nie wieder
Auschwitz" gebracht. Einigen israelischen Politikern fiel schon damals auf, dass
hier Argumente gesammelt wurden, die sich gegen Israel wenden ließen: dass
Jugoslawien "ein künstlicher Staat" sei, dass "der ethnische Konflikt sich nur
von außen lösen lässt" und dass "Deutschland wegen seiner Geschichte eine
besondere Verantwortung hat". Im April 2000 brachte Deutschland vor der
UN-Menschenrechtskommission in Genf einen Antrag ein, der Israel aufforderte,
den Ausbau von Siedlungen zu stoppen.
Am 20.Juni 1991 stimmte der Deutsche Bundestag mehrheitlich
dafür, Berlin zum deutschen Regierungssitz zu machen. Mit dem Beschluss von
1994, nicht mehrheitlich neu zu bauen, sondern Altbauten zu nutzen, erfolgte
auch die Weichenstellung zum Einzug in berühmt-berüchtigte Nazi-Bauten wie z.B.
in das frühere NS-Propagandaministerium. Allein die Umnutzung dieser Nazi-Bauten
– darunter das Innenministerium, das Ministerien für Luftfahrt sowie die
Reichsbank – kostete mehrere Milliarden Mark. Etwas anders wurde die "belastete
Vergangenheit" beim Reichstag entsorgt. Vor dessen Umbau ließ man das Symbol
deutscher Reichsgröße vom 23.Juni bis 6.Juli 1995, von dem Künstlerpaar Christo
und Jeanne-Claude mit Tüchern verhüllen. Was danach wieder enthüllt wurde,
sollte ein nicht neues, aber ein symbolisch gereinigtes demokratisches Symbol
der deutschen Nation sein. Die Debatte darüber am 25. Februar 1994 im Bundestag
("die Umhüllung des Gebäudes gibt dem Bau eine neue, überraschende ästhetische
Gestalt. Er eröffnet uns die Chance, diesen Bau in seiner Eigenart anders
wahrzunehmen." "Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes markiert einen
Neubeginn, einen neuen Abschnitt in der Geschichte dieses Gebäudes", "ein
Zeichen für ein selbstbewußtes, gelassenes, tolerantes Parlament, .... mutig in
einer Zeit verbreiteter Verzagtheit") ist
hier dokumentiert. Früher hatte, wie
Adorno bemerkte, vor allem der gemeinsame westdeutsche und westliche
"Widerstand gegen den Osten in sich selbst eine Dynamik, welche das in
Deutschland Vergangene erweckt". Heute ist es der Widerstand gegen das
israelisch-amerikanische Bündnis, der in Deutschland das Vergangene
erweckt.
Unter Polizeischutz: Die Juden in Deutschland
"Stellen wir uns vor, Deutschland wäre nicht besetzt, dann wären Pogrome an der
Tagesordnung" (Jüdisches Gemeindeblatt Wuppertal, Mai 1947)
Bis zur Vereinigung hatten Juden in der DDR und der BRD, trotz etlicher
Übergriffe das Gefühl, relativ unbehelligt in Ost und West leben zu
können und kein "deutsches Bekenntnis" ablegen zu müssen. Die
eingeschränkte Souveränität und die Anwesenheit der Siegermächte
empfanden sie als einen gewissen Schutz. Mit der Vereinigung ist für sie
eine neue Situation entstanden. Jetzt müssen sie sich bekennen. In der
letzten Bundestagsdebatte über die Lage im Nahen Osten wandte Edmund
Stoiber sich "an die in Deutschland lebenden Juden" und erinnerte sie
mit dem Satz: "Sie sind loyale Bürger unseres Landes" daran, dass sie
unter Verdacht stehen.
In den ersten fünf Jahren nach der Wiedervereinigung sind mehr jüdische
Friedhöfe verwüstet worden als in den Jahren zwischen 1914 und 1933. Dirk Walter
hat in dem Buch "Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der
Weimarer Republik" (Bonn 1999) die Gewalt und die Skandalisierungsstrategien der
Antisemiten untersucht. Er berichtet, wie jüdische Bürger gezwungen waren, in
der Öffentlichkeit Tarnungen vorzunehmen. Die Kippa wurde durch Baskenmützen
ersetzt, man stutze sich den Bart nach Art des Prinzregenten und wollte in jeder
Hinsicht nicht als "Jude" auffallen. Nur am Sabbat ergaben sich gewisse
Auffälligkeiten, wenn die Gottesdienstbesucher in Festtagskleidung durch die
Straßen gingen. Zeitweise konnten die Juden darauf zählen, dass das Bürgertum
den Radauantisemitismus als Gefährdung der allgemeinen Ordnung ablehnte. Auch
die von jüdischen Verbänden organisierte juristische Verfolgung der Täter
brachte einige Erfolge. Wirkliche Solidarität erfuhren die Verfolgten aber nur,
wenn Antisemitismus vom linken Lager als reaktionärer Angriff auf die
Errungenschaften der Revolution wahrgenommen wurde. In diesen Fällen bekam die
anti-antisemitische Propaganda, auch wenn die tatsächlichen Opfer der Angriffe
dann oft in den Hintergrund traten, immerhin eine starke Breitenwirkung.
Davon ist heute in Deutschland nichts zu sehen. In den jüdischen Gemeinden
herrscht Angst, aber die "Zivilgesellschaft" wird deshalb nicht tätig. Kaum ein
Jude traut sich, mit einer Kippa auf dem Kopf durch die Straßen zu gehen. Ebenso
fühlen sich Juden und Jüdinnen, die sich in einem als jüdische Einrichtung
erkennbaren Gebäude versammeln, notwendigerweise gefährdet.
Am Beginn der Verfolgung stand einst die Beraubung des Ansehens und der
Grundrechte der jüdischen Person. Das Ansehen wird ihnen heute durch ihre
Haftbarmachung für "israelische Verbrechen" verweigert. Sie sind einerseits
Objekte einer antisemitischen Kriminalität, zu der die "Zivilgesellschaft"
schweigt und erfahren zugleich eine moralische Abwertung zu Parteigängern
israelischer "Menschenrechtsverletzungen", zu Leuten also, von denen man sich
jetzt ebenso wenig belehren lassen muss wie von Israel selbst. Den Schutz des
Rechts auf Unversehrtheit soll ihnen der Staat gewähren, an den man in
Deutschland "Judenangelegenheiten" schon immer gerne delegierte. Die Weigerung
der sonst für alles zuständigen "Zivilgesellschaft", sich selbst schützend vor
diese in Deutschland am meisten bedrohte Minderheit zu stellen, ist reales
schuldhaftes Handeln; die Unterlassung von Protest und Gegenwehr bei
gleichzeitiger Agitation gegen Israel ist Antisemitismus. Antirassistische
Gruppen bilden Aktionskomitees, wenn Übergriffe z.B. gegen afrikanische
Flüchtlinge bekannt werden. Ein Komitee zum Schutz jüdischer Personen und
Einrichtungen gibt es nicht. "Wir wollen nicht mehr wegschauen" - dieser Slogan
wird stattdessen gegen Israel in Anschlag gebracht.
Die Attacken von Möllemann, Walser oder Blüm und die ihnen entgegengebrachte
offene oder halblaute Zustimmung zeigen, dass der neue Anti-Israelismus, der
erstmals ohne explizite Leugnung des Holocaust antisemitische Praktiken
legitimiert (der die bislang gültige Staatsräson zugleich anerkennt und
subvertiert), kein Import aus dem arabischen Raum ein. 1933 gab es elf Millionen
Juden in Europa. Heute eine Million. Daraus folgt, dass der von Deutschland mit
Hilfe nicht weniger Kollaborateure in Europa durchgesetzte eliminatorische
Antisemitismus der entschlossenste auf der ganzen Welt war. Der Antisemitismus
war seither in ganz Europa immer präsent. Inzwischen begleiten Gewalt gegen
Juden, literarische ausagierte Mordphantasien und Holocaust-Vorwürfe gegen
Israel die Bemühungen um Konsolidierung und Erweiterung einer von Deutschland
dominierten, überwiegend pro-arabischen EU.
Der Antisemitismus-Jahresberichtes der Universität von Tel Aviv wie auch die
jüngsten Untersuchungen des Jüdischen Weltkongresses kommen zu dem Schluss, dass
es seit dem 2. Weltkrieg in Deutschland und Europa keine derartige Welle
antijüdischer Umtriebe mehr gab. "Mit einem Mal ist es legitim geworden, Juden
zu hassen, und den Juden und Israel alle Probleme der Gesellschaft anzulasten.
Je weiter die Krise eskalierte, desto mehr wird Israel in Europa zum
Ausgestoßenen - und plötzlich werden wieder Synagogen in Brand gesetzt."
Diese Gleichzeitigkeit von Angriffen auf jüdische Bürger und
Anti-Israel-Propaganda macht deutsche Juden und Jüdinnen wieder zu Deutschen auf
Bewährung. Doch nicht zuletzt die Existenz Israels erlaubt es z.B. Paul Spiegel,
den Antisemiten offensiv entgegenzutreten: "Wir werden nicht mehr schweigen,
wenn man uns beleidigt. Wir schreiben das Jahr 2002 und nicht das Jahr 1938".
haGalil onLine 12-09-2002 |