»Weltoffen und tolerant«
Nach rassistischen Übergriffen tagte in Algermissen
ein runder Tisch - ohne Flüchtlingsvertreter
Reimar Paul,
junge welt
Nach den pogromartigen Ausschreitungen gegen
Flüchtlinge im niedersächsischen Algermissen bei Hildesheim am 31.
August und 1. September rufen Initiativen für kommenden Sonnabend zu
einer Demonstration vor Ort auf. »Wir werden nicht zulassen, daß in
Algermissen jetzt schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen wird, als
wäre nichts geschehen«, erklärte der Niedersächsische Flüchtlingsrat.
Alle an den Ausschreitungen Beteiligten müßten
konsequent verfolgt werden. Die Gemeinde Algermissen müsse sich bei den
betroffenen Flüchtlingen entschuldigen und Wiedergutmachung »in Form von
Schmerzensgeld« leisten.
Am Abend des 31. August hatte zunächst eine Gruppe von etwa 20
Jugendlichen vier Tamilen auf einem Volksfest in Algermissen angepöbelt.
Die Flüchtlinge flohen zurück zu ihrer Unterkunft, wurden jedoch von den
deutschen Jugendlichen verfolgt und mehrfach geschlagen. Ein Tamile
erlitt eine Verletzung am Arm, ein zweiter eine Platzwunde am
Hinterkopf, die später im Krankenhaus genäht werden mußte. Die zu Hilfe
gerufene Polizei schützte die Flüchtlinge vor weiteren Übergriffen und
nahm ihre Personalien auf, nicht jedoch die der Täter.
Als die Beamten wegfuhren, kamen die Angreifer zurück und warfen mehrere
Scheiben des Gebäudes ein. Ein Tamile wurde durch einen Glassplitter im
Auge getroffen. Von der erneut herbeigerufenen Polizei verlangten die
Flüchtlinge die Unterbringung in einer anderen Unterkunft. Das wurde
abgelehnt, die Polizei bewachte das Haus aber während der Nacht.
Am Sonntag abend überfielen rund 50, teilweise mit Eisenstangen und
Zaunlatten bewaffnete Deutsche, rechtsradikale Parolen grölend, erneut
das Wohnheim. Die Flüchtlinge flohen in den ersten Stock und
verbarrikadierten sich in einem Zimmer. »Wir fühlten uns wie vor einer
Hinrichtung«, sagte ein Tamile später. Die zunächst nur mit vier Beamten
angerückte Polizei brauchte eine Stunde, um die Bewohner zu befreien und
vorübergehend in eine andere Unterkunft nach Hildesheim zu bringen.
Derzeit sind die Flüchtlinge in anderen Unterkünften verteilt.
Am vergangenen Freitag beriet in Algermissen ein »runder Tisch« über die
Vorfälle. An dem Treffen nahmen Vertreter der Gemeinde, der
Ratsfraktionen von CDU und SPD, der katholischen und evangelischen
Kirchengemeinde sowie der das Volksfest ausrichtenden Vereine teil.
Flüchtlinge und ihre Unterstützer waren ausdrücklich nicht eingeladen.
In einer Resolution »Algermissen ist weltoffen und tolerant« verurteilt
der runde Tisch die »Vorkommnisse«. Man habe »kein Verständnis für jede
Form von versuchter oder tatsächlicher Selbstjustiz. Das Gewaltmonopol
liegt allein bei der Polizei«. Die Übergriffe hätten auch »nichts mit
dem Volksfest zu tun, bei dem Hunderte von anständigen und
rechtschaffenen Bürgerinnen und Bürgern fröhlich miteinander feiern und
traditionell die Dorfgemeinschaft pflegen«.
Ganz in diesem Sinne wird den Flüchtlingen zumindest eine Mitschuld an den
Ausschreitungen zugewiesen: »18 junge Männer in einem kleinen Ort
unterzubringen, führt fast zwangsläufig zu negativen Vorkommnissen, wie
sie bereits in der Vergangenheit mehrfach zu verzeichnen waren«.
Tatsächlich sind die Pogrome nur der Höhepunkt einer ganzen Serie von
Übergriffen auf die Flüchtlinge in Algermissen. Erst vor drei Monaten
besprühten Unbekannte sämtliche Wände in der Flüchtlingsunterkunft mit
rassistischen und rechtsradikalen Parolen sowie Hakenkreuzen.
* Demo am 14. 9., 11 Uhr, Bahnhofsplatz in Algermissen
hagalil.com
11-09-02 |