Die Marmorplatte
zerriss wie Papier
Am zehnten Todestag von Heinz Galinski sind die zwei
Anschläge auf sein Grab so wenig aufgeklärt wie andere antisemitische
Gewalttaten in Berlin
von HEIKE KLEFFNER
Zwei tiefe Risse teilen das Buch aus
schwarzem Granit in vier beinahe gleich große Stücke. Eine schwere
Grabplatte, mit einem kurzen Vers aus dem Kaddisch, dem jüdischen
Totengebet, eingraviert in goldfarben schimmernden hebräischen
Buchstaben und dem Namen Heinz Galinski. Gedacht für die Ewigkeit. Jetzt
liegt sie zerborsten auf säuberlich geharktem Sand. Auf der glänzenden
Oberfläche der Bruchstücke spiegeln sich Kiefern und ein Stück Berliner
Himmel. Noch immer weiß niemand, wer am Abend des 19. Dezember 1998 auf
dem Grab des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in
Deutschland den Sprengsatz deponierte, der die tonnenschwere Platte wie
ein Blatt Papier in Stücke riss. "Sprengstoffanschlag durch unbekannte
Frevler" steht auf einer Tafel.
Daneben liegt, glatt und unberührt, die neue Grabplatte. Eine identische
Kopie, überragt von dem Grabmal mit der kurzen Inschrift: "Dr. Heinz
Galinski, 28. 11. 1912 bis 19. 7. 1992, Vorsitzender der Jüdischen
Gemeinde 1949 bis 1992. Er widmete sein Leben in Treue der
Gemeinschaft." Eine hellblaue Plastikbank lädt hier die Besucher des
jüdischen Friedhofs an der Heerstraße in Charlottenburg zum Grübeln ein,
von hier aus blickt man auf den zentralen Gedenkstein für die 60.000
Berliner Juden und Jüdinnen, die die Deportation in die
Vernichtungslager nicht überlebten, und ein Feld von Steintafeln, auf
denen die wenigen Überlebenden an ihre Angehörigen erinnern: "Umgekommen
im KZ Buchenwald". "Erschossen im Januar 1945 in Auschwitz". "Aus dem KZ
nicht zurückgekehrt".
Der letzte Versuch, das Grab von Heinz Galinski zu zerstören, liegt erst
wenige Monate zurück. Wieder kamen die Täter in den Abendstunden, wieder
zerriss die Detonation einer selbst gebastelten Rohrbombe die Stille des
Friedhofs. Das Galinski-Grab blieb jedoch unbeschädigt. Anders als vor
vier Jahren gelangten die Täter nicht aufs Gelände, sondern warfen den
Sprengsatz über die knapp drei Meter hohe Mauer, die den Eingangsbereich
des Friedhofs umgibt. Dort zerbarsten Fensterscheiben in den
Andachtsräumen, Blumenkränze und eine Gehwegplatte wurden zerstört. Die
Spuren sind längst beseitigt, auch Videokameras, mit denen seit kurzem
gefährdete Plätze in Berlin überwacht werden sollen, bleiben den
flüchtigen Blicken verborgen. Nur der grünweiße Wagen, der vor dem Tor
des 1953 eingeweihten Friedhofs hält, ist nicht zu übersehen. Gemessenen
Schritts läuft ein Polizist wenige Schritte eine sorgfältig gestutzte
Rosenhecke entlang zum Galinski-Grab. Vor dem letzten Schändungsversuch
fuhren die Beamten hier nur unregelmäßig Streife, jetzt kommen sie
stündlich. Leise, unaufdringlich, und sehr ordentlich. Einem Ort
angemessen, der nach jüdischem Glauben bis in die Ewigkeit unberührt
bleiben soll.
Zerborstener Granit lässt sich ersetzen. 1998 zahlte der Senat die Kosten
für die neue Platte auf dem Grab ihres Ehrenbürgers. Doch die
Erfolglosigkeit der Ermittlungsbehörden bei der Suche nach den Tätern,
von denen das LKA nur sagen kann, dass es sich mit größter
Wahrscheinlichkeit um organisierte Rechtsextremisten handelt, hat tiefe
Spuren hinterlassen. Ignatz Bubis, der Nachfolger Heinz Galinskis als
Vorsitzender des Zentralrats, erklärte 1999 kurz vor seinem Tod ganz
explizit: "Ich möchte in Israel beerdigt werden, weil ich nicht will,
dass mein Grab in die Luft gesprengt wird - wie das von Heinz Galinski."
Als Galinski mit 79 vor genau zehn Jahren starb, hatte die erste Welle
neonazistischer Gewalt nach der Wiedervereinigung gerade ihren Höhepunkt
erreicht. Sein Lebensmotto "Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu
neuem Unrecht zu schweigen", machte den oft streng und distanziert
wirkenden Mann mit den dunklen Brillengläsern, der ab 1949 über vierzig
Jahre den Vorsitz in der jüdischen Gemeinde in Berlin innehatte, zu
einem unüberhörbar kritischen Mahner im Nachkriegsdeutschland - und erst
recht in dieser Zeit kurz vor seinem Tod. Manches, was Galinski zu
Lebzeiten vergeblich anmahnte, ist inzwischen ein paar Schritte auf den
Weg gebracht. Die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter sind einer Entschädigung
näher gekommen, das Holocaust-Mahnmal soll tatsächlich gebaut werden.
Doch die Kette von antisemitischen Gewalttaten in Berlin reißt nicht ab:
Die wiederholten Schändungen des Mahnmals für die deportierten Juden und
Jüdinnen auf der Putlitzbrücke, die Zerstörung von 103 Grabsteinen auf
dem Weißenseer Friedhof im Oktober 1999 und der Anschlag auf das Lager
eines Steinmetzes, der sich öffentlich bereit erklärt hatte, die
zerstörten Grabsteine zu restaurieren, der Brandanschlag auf den
S-Bahn-Waggon der Ausstellung "Jüdisches Leben in Berlin" am Anhalter
Bahnhof im September 1999 und die zwei Rohrbombenattentate auf das
Galinski-Grab 1998 und 2002. In allen Fällen heißt es lapidar: "Die
Täter konnten nicht ermittelt werden". Die Belohnungen von 20.000 Mark
(1998) und 5.000 Euro (2002), die für Hinweise zur Ergreifung der Täter
ausgelobt wurden, führten nicht weiter. Ebenso wenig wie die
Alibiüberprüfungen bei mehr als einem Dutzend Berliner Neonazis
unmittelbar nach dem Anschlag im Frühjahr dieses Jahres. Eine Bilanz,
die Julius Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums, so
kommentiert: "Die Verantwortung liegt beim Berliner Innensenat. Da wird
einfach nicht genug getan."
Im Dezember 1998 hatte sich die Aufmerksamkeit der Ermittler unter anderem
auf den damals untergetauchten Neonazi Ekkehard Weil konzentriert, der
schon wiederholt zu Maschinengewehr und Sprengstoff gegriffen hatte.
Doch Weil, der Anfang der 90er-Jahre in Berlin mehr als ein Dutzend
heute noch aktiver Neonazis paramilitärisch ausbildete, sitzt heute in
Bochum in Haft und kommt daher als Täter für den jüngsten Anschlag kaum
in Betracht. Die Kripo geht davon aus, dass es sich in den zwei Fällen
um verschiedene Täter handelt. Allerdings sei die beabsichtigte Wirkung
die Gleiche: Als "eine Symboltat, die Aktionsfähigkeit ausdrücken soll -
in der Öffentlichkeit und in die rechte Szene hinein", bezeichnet der
Leiter der Staatsschutzabteilung Rechtsextremismus beim LKA die
Grabschändungen. "Jede Verwendung von Sprengstoff ist beunruhigend, weil
damit nicht nur gegen Sachen vorgegangen werden kann, sondern auch gegen
Menschen." Beim LKA tröstet man sich damit, dass die überwiegende
Mehrzahl der in Berlin registrierten 106 antisemitischen Straftaten im
vergangenen Jahr und der rund 50 in diesem Jahr keine Gewalt-, sondern
Propagandadelikte waren. Die Sonderkommission, die nach dem Anschlag im
März einberufen wurde, ist längst wieder aufgelöst. Und die
Fünfmonatsfrist, nach der die Ermittlungen im Fall des ersten
Sprengstoffanschlags eingestellt wurden, rückt auch wieder näher.
Ruth Galinski erzählt, dass sie bei ihren regelmäßigen Friedhofsbesuchen
noch immer von Gemeindemitgliedern hört: "Die Stimme ihres Mannes
fehlt." Am schlimmsten sei für sie gewesen, dass es nach dem zweiten
Anschlag auf das Grab kaum Reaktionen aus der Bevölkerung gab.
Sicherlich, die führenden Politiker der Stadt schrieben Briefe, voll
gesetzter Worte des Entsetzens und des Abscheus. "Aber wo blieben die
Demonstrationen?" Zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes fragt sich die
81-Jährige manchmal, "ob sich sein Engagement gelohnt hat".
Heinz Galinski hatte zu Lebzeiten die Frage, ob Juden nach der Shoa in
Deutschland leben könnten, immer eindeutig bejaht. Seine Frau sagt
heute, trotz der Anschläge sei sie "nie auf die Idee gekommen, ihn
irgendwo anders zu begraben. Schließlich ist er hier geboren, hier hat
er gearbeitet und gekämpft."
taz Berlin lokal Nr. 6804 vom 19.7.2002,
Seite 19, 254 TAZ-Bericht HEIKE KLEFFNER
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