Kommentar zu einem Skandal:
Tränengas vor der Synagoge
Er war eigentlich
vorprogrammiert, der Eklat, welcher seinen Höhepunkt im Tränengaseinsatz
gegen antifaschistische Demonstranten und Demonstrantinnen vor der
Synagoge in der Berliner Oranienburgerstrasse hatte.
Er war absehbar, weil die Berliner
Polizei stets dort mit Härte und Brutalität agiert, wo es reale oder
vermeintliche Linke zu treffen gilt. Aber das Skandalöse war auch
voraussagbar, weil es die Berliner Republik mit dem Aufstand der
Anständigen dann doch nicht so ernst meint. Letzteres zeigen die
Erfahrungen antinazistisch gesinnter Menschen, die sich auch ohne
offizielle Aufrufe seit Jahren dem braunen Mob entgegenstellen. Sei es
in Hoyerswerda, wo vor genau zehn Jahren pogromartige Angriffe gegen
eine Flüchtlingsunterkunft stattfanden, oder wie vor einigen Wochen in
Leipzig, als vor allem Jugendliche Demonstranten versuchten einen
NPD-Aufmarsch zu blockieren. Es zeigen aber auch die Erfahrungen von
Menschen mit anderer Hautfarbe, die immer wieder zu Opfern deutscher
Rassisten werden, oder sollten sie in unverschämter Weise ihr Leben
selbst verteidigen, in die Mühlen der Justiz geraten.
Statt Zivilcourage gegen
Rechtsextreme zu unterstützen, wird diesen Menschen stets Recht und
Ordnung mit dem Schlagstock eingetrichtert. Die Lektion, welche sie
lernen sollen heißt: Gehorsam gegen die Obrigkeit.
Der Eklat in der
Oranienburgerstrasse wirkt als wäre er gewollt. Auch
nach eigenem Verständnis agierte die Einsatzleitung mit zweierlei Maß.
Während Polizisten auf Linke und bürgerliche Demonstranten einprügelten,
durften die Nazis die Parole "Ruhm und Ehre der Waffen-SS" skandieren
und auch die verbotenen Strophen des "Deutschland-Liedes" singen.
Prügelorgien und Wasserwerfereinsätze gab es gegen diese Kundgebung
keine. Die scheinbare staatliche Neutralität mit der Rechtsextreme von
angeblichen Linksextremisten und Gewalttätern durch die Polizei getrennt
werden sollten ist eine Farce. Allen Verlautbarungen zum Trotz steht die
Mitte der Gesellschaft inzwischen soweit Rechts, wie noch vor zehn
Jahren die Republikaner. Das zeigen auch die demagogischen Debatten um
"deutsche Leitkultur" und Otto Schilys "Sicherheitspaket".
Was Polizei und Politik am
vergangenen Samstag in Kauf nahmen um Ruhe und Ordnung durchzusetzen,
ist nicht mehr und nicht weniger als die Verletzung der jüdischen
Gemeinde. Und das weniger in physischer Hinsicht. Wie wenig
Einfühlungsvermögen und Gewissen besitzt eine Polizeiführung, die einen
Wasserwerfer und Tränengaseinsatz in unmittelbarer Nähe der Synagoge
anordnet?
Wenn der Berliner Innensenator
Ehrhard Körting davon spricht, die Autonomen würden mit ihrer Gewalt das
Geschäft der Rechten verrichten so ist das blanker Zynismus. Unabhängig
von jeglicher politischen Konjunktur waren es immer wieder autonome
Antifaschisten und Antifaschistinnen, die sich gegen Nazis stellten und
den antifaschistischen Selbstschutz propagierten. Ob Gewaltausübung
gegen Rechtsextreme dabei nun legitim ist oder nicht, steht auf
einem anderen Blatt.
Statt über gute und böse Nazigegner
zu schwadronieren gilt es jetzt eher darüber zu reden, was der
Gaseinsatz vor der Synagoge bei den Gemeindemitgliedern ausgelöst hat
und die einzelnen mit einem solchen Erlebnis nicht allein stehen zu
lassen. Es ist aber auch nötig sich mit den Verhafteten und Geschlagenen
zu solidarisieren.
Die Berliner PDS sollte sich fragen,
ob sie mit einer sozialdemokratischen Partei koalieren will, die so
wenig politisches Fingerspitzengefühl besitzt wie ihr Innensenator. Auch
wenn Gregor Gysis Engagement dafür, den Polizeieinsatz in der
Oranienburgerstrasse abzubrechen sehr zu loben ist, so kann man sich
doch fragen, ob ähnliches von einem Senator Gysi noch zu erwarten ist.
Als profilierte Oppositionspartei könnte die PDS sicherlich mehr zum
Kampf gegen Rechtsextremismus beitragen, als sie es in der Rolle einer
Regierungspartei vermag.
Als Fazit der Aktionen gegen den
Naziaufmarsch bleibt die Notwendigkeit der Zusammenarbeit aller, die
sich gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus und deutschen
Nationalismus wehren wollen. Eine solche Zusammenarbeit sollte quer
durch die politischen Gruppierungen möglich sein, ohne Distanzierungen
und Spaltungen.
is / hagalil.com
07-12-01 |