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Judentum und Israel
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Apg 2, 35

Christoph Dieckmanns gut lutherische Predigt
gegen die Juden in der Zeit.

von stefan ripplinger

DIE ZEIT: Zum 9. November
Christoph Dieckmanns Reise nach Auschwitz
und die Schicksalsdämmerung der deutschen Gegenwart
Forum zum Thema

Bekanntlich sind die Islamisten gar nicht alle einer Meinung: Die einen glauben nämlich, dass Anschläge gegen die Juden geführt werden müssten, und die anderen, dass die Juden hinter den Anschlägen steckten. Und die Erben der christlichen Aufklärung, die Linken und Liberalen, die Christen und Pazifisten, bilden ebenfalls keinen Block: Die einen glauben, die Juden hätten Schuld, weil sie eine kriminelle Siedlungspolitik betrieben, die andern, die Juden hätten Schuld, weil sie ein alttestamentarisches Volk seien. Und manche, wie Christoph Dieckmann, glauben, die Juden betrieben eine kriminelle Siedlungspolitik, weil sie ein alttestamentarisches Volk seien. Das nenne ich Pluralismus.

Dieckmann stammt aus der DDR. Dort war auch nicht alles aus einem Guss. Es gab die Partei, die sich auf Luther berief, und es gab die christlichen Dissidenten, die sich auf Luther beriefen. Die Juden mochten sie alle nicht so gern, besonders den Hermlin nicht. Und als sich die Grenze öffnete, trafen sie noch andere, die ebenfalls die Juden im Allgemeinen und Hermlin im Besonderen nicht besonders mochten.

Nun sitzt Dieckmann im altlutherischen Hamburg, in der altliberalen Zeit, der Pluralismus wächst und gedeiht, und es fällt mir mit den Jahren immer schwerer, seine Blüten auseinander zu halten. Nun reist auch Dieckmann an jenen Ort, an den zu reisen »keine Mauer verboten« hat. Denn nun darf er endlich schreiben wie alle in der wiedervereinigten Christenheit. Nämlich unter anderem, dass Auschwitz und Birkenau weder wie ein Spielberg-Film noch wie ein Celan-Gedicht aussehen und die Juden nicht wie Apostel.

»Gottesvolk und Kriegstrompeten. Zum 9. November: Eine Reise nach Auschwitz und die Schicksalsdämmerung der deutschen Gegenwart. Von Christoph Dieckmann« (Die Zeit, 46/01): »Du fährst hinaus zum Lager Birkenau. Du siehst das Tor, die breite Stallung, unterm Mittelturm durchlaufen vor dem Gleis, das auf die Rampe führt.« Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Du sagen. »Links des Tores versinkt die Sonne in einem Glast von Kobalt und Zinnober, und hoch oben schneidet ein Flugzeug mit lohweißem Schweif den Himmel auf.« Aber nun.

»Aber nun wird es dunkel. Der Mond ist aufgegangen«, und mit Matthias Claudius befindet sich der geduzte und verdutzte Leser unversehens in der protestantischen Aufklärung. Der Wald steht schwarz und schweiget. »Ich wurde nie antisemitischen Versuchungen ausgesetzt - wie auch in einem judenrein gewordenen Land?« Seht ihr den Mond dort stehen, er ist nur halb zu sehen; so sind wohl manche Sachen, die wir getrost verlachen, weil unsere Augen sie nicht seh'n. »Was mir immer fremd blieb: der jüdische Glaube an Israel als Gottes auserwähltes Volk. Gottes Volk war mir die christliche Gemeinde, die aus Einzelnen bestand und deren Glauben kein ethnisches Bekenntnis vertrug.« Lass uns einfältig werden und vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein. »Ich liebte die Apostelgeschichte von der Taufe Lydias, der ersten europäischen Christin.« Wie ist die Welt so stille und in der Dämmerung Hülle so traulich und so hold. »Jesus Christus galt mir als Individualisierer des ehedem exklusiv jüdischen Glaubens, der nun jedem angeboren war.« Gleich einer stillen Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt. »Aber wirkt nicht die Geschichte des christlich verbrämten Nationalismus wie eine Kopie des jüdischen Volkserwählungsglaubens?« Verschon uns Gott die Strafen und lass uns ruhig schlafen und unser'n kranken Nachbar auch. »Nationalität schien gottgewollt, als unterliege der Christ Stammesgesetzen.« Wir spinnen Luftgespinste und suchen viele Künste und kommen weiter von dem Ziel. »Ebendas verbietet auch blinde Parteigängerei für Israel.« Wir stolzen Menschenkinder sind eitel arme Sünder und wissen gar nicht viel. »Darum hat Gott sich in einem Menschen offenbart. Denn einer, das meint kein Volk, das gilt jedem - wie die Menschenrechte.« Lass uns in'n Himmel kommen, du unser Herr und unser Gott!

So ist also ein christlicher Aufklärer nach Auschwitz gereist, als Einzelner, als Individualisierer, um »zum 9. November«, also zum blutigen Vorabend von Luthers Geburtstag, alles ganz neu zu sehen, und wirklich sieht er alles so, wie es in der Apostelgeschichte steht, diesem Arsenal der Antisemiten von jeher. Wie kein anderes Buch der Bibel stellt dieses von »So wisse nu das gantze haus Israel gewis / Das Gott diesen Jhesum / den jr gecreutziget habt / zu einem HErrn vnd Christ gemacht hat« (Apg 2, 36) über »Jhesum / Welchen jr vberantwortet vnd verleugnet habt fur Pilato« (3, 13) bis zu der Geschichte der zum Christentum übergetretenen Jüdin Lydia, »ein gott fürchtig Weib mit namen Lydia eine Purpurkremerin« (16, 14), die Dieckmann hier erinnert, die neue gegen die alte Religion und gegen den Glauben an die Auserwählung und Offenbarung der alten ihren eigenen und gewalttätigen, »Setze dich zu meiner Rechten. Bis das ich deine Feinde lege zum schemel deiner Füsse«. Kurz: Hier präsentieren sich die Christen als auserwähltes Volk.

Nun ist der jüdische Glaube an Offenbarung und Auserwählung niemals der chauvinistische gewesen, als den die christlichen Chauvinisten ihn beschimpft haben, und spätestens mit Moses Mendelssohns »Jerusalem« (1783) zeigte sich, dass jüdischer Glaube auch ohne ihn seine Eigenheit bewahren kann. Aber unterdessen wurde das längst verstreut lebende Volk Israel ja ein zweites Mal auserwählt, nämlich zum Hauptfeind des aufgeklärten christlichen Deutschland, dem, wie Judenmissionar Dieckmann ausführt, im Neuen Bund das Menschenrecht für alle offenbart wurde - solange sie an Jesus Christus oder wenigstens die christliche, sprich lutherische Aufklärung glauben. (»Leitkultur« ist ein aufklärerischer Begriff.) Wenn also Juden deren Segnungen teilhaftig werden wollten, mussten sie ihrem Glauben abschwören. Erforderlich sei, so fasste Immanuel Kant die Ziele dieses eliminatorischen Universalismus zusammen, die »Euthanasie des Judenthums«.

Damit »der Faden der Aufklärung« nicht reiße, fährt Dieckmann also fort: »War nicht das Volk Israel, dem Gott seine Gebote offenbarte, unterwegs nach einem verheißenen Land, in dem aber längst andere Menschen lebten? Hält nicht Israel bis heute fremde Erde und büßt dafür mit Tod und tötet jeden Tag? Wir registrieren das ohne deutschen Kommentar, als gebiete unsere Geschichte uns zu schweigen, als rechtfertige Auschwitz Israels Palästinapolitik. Israels Erwählungshybris ist ein Fluch.« »Ihr seid Schlangengezücht und Teufelskinder«, donnerte der rhetorisch gewandtere Vorvater; das kommt aufs Gleiche heraus. Es bleibt aber das Wunderbare, dass, wann immer ein Protestant einen »deutschen Kommentar« spricht, er sich fühlt wie Luther auf dem Reichstag zu Worms, allein gegen alle. Da mag Martin Walser wie Dieckmann von einem »Auschwitz-Reflex« geredet, Günter Grass die israelische Politik als »kriminell« hingestellt, Jürgen Möllemann sie für die Anschläge von New York verantwortlich gemacht haben, hier steht er und kann nicht anders.

»Warum lassen Linke, Liberale, Christen, Pazifisten das deutsche Feld so völlig brach?« Blüht es denn nicht in Schwarz, Rot, Gold, wenn ein deutscher Journalist, dem nicht einmal Auschwitz, ja nichts in der Welt zu schweigen eingibt, in einer der größten Zeitungen des Landes schreiben darf, dass Israelis auf »fremder Erde« siedelten, dass sie, wie seit der Zerstörung des Tempels, für ihren eigenen Glauben büßten und dass der völkische Nationalismus wie »eine Kopie des jüdischen Volkserwählungsglaubens« erscheine?

Dieckmanns neues Buch »Volk bleibt Volk. Deutsche Geschichten« erzähle, berichtet der Literaturhinweis am Ende, »vom tiefen Graben zwischen Kollektivhistorie und persönlicher Erfahrung«. Jeder, der es mit diesem Volk-bleibt-Volk einmal zu tun bekommen hat, weiß, wie leicht dieser Graben übersprungen werden kann. Umfasst von der Schicksalsdämmerung Hülle, mögen einem solchen Linke, Liberale, Christen, Pazifisten wie ein einig Volk von Lutheranern erscheinen.

hagalil.com 14-11-01


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