Seit nunmehr über einem Jahr haben 200 Überfälle die jüdische Gemeinde
punktuell und regelmäßig aufgerüttelt... Am 22. Oktober 2000 erklärte
der Innenminister seit Beginn der Aggressionen die Personalien von 55
Personen überprüft zu haben, von denen 38 Gegenstand gerichtlicher
Verfahren wären. In allen Fällen handelte es sich um Jugendlichen aus
den "banlieues"
(Vororte)... Sechs von ihnen hatten die Inbrandsetzung der Synagogue von
Trappes in dem Département Yvelines (um Paris) zu verantworten, zwölf
wurden wegen Brandstiftungen gegen Läden, welche jüdische Besitzer
haben, und vier wegen Gewalt gegen Personen jüdischer Herkunft verfolgt.
Damals war der Druck groß... Dieser Druck scheint später abgenommen zu
haben, die Ermittlungen sind weniger geworden...
Im vergangenen Jahr haben wenige Politiker reagiert, als wären sie
verlegen oder wenig geneigt... Hingegen ist es interessant, dieses
zumindest verwirrende Schweigen der Anhäufung von Appellen nach den
Attentaten vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten
entgegenzustellen. Diesmal haben zahlreiche Politiker - und ich finde
zurecht - unsere Mitbürger gewarnt, die Republik würde nicht zulassen,
dass Muslime Rassismus oder Diskriminierungen erfahren und dass zwischen
Islam einerseits und Islamisten andererseits keine Gleichsetzung erlaubt
sei. Selbstredend hatten die Bürgermeister die Gemüter zu beruhigen und
mussten dafür sorgen, dass die Sicherheit der jüdischen Institutionen
und religiösen Stätten gewährleistet wird. Die öffentliche Meinung hat
den schauderhaften antisemitischen Ausbruch zunächst ausschließlich der
endemischen Gewalt, die häufig in den banlieues herrscht,
zugeordnet. Von Mitte Oktober an hat sich die Lage jedoch verändert,
nunmehr begreift man, dass es sich um bewusste Zielscheiben handelt.
Da die zweite Intifada auch ein Krieg der Bilder und der Symbole ist,
wird die Macht der Bilder ihre Spuren hinterlassen. Diese Bilder prägen
das Bewusstsein und diabolisieren den einen oder den anderen... Der
Analyse von Smain Laacher zufolge, Soziologe an der École des
hautes études en sciences sociales, über das Profil der Jugendlichen,
die zur Tat übergeschritten sind, waren die im Fernsehen gesehene Bilder
ausschlagebend. Laut Mehdi Lalloui, eine der Hauptfiguren des Marsches
für die Gleichheit 1983, sehen diese Jugendliche äußerst gewaltsame
Konfrontationen in Fernsehen, sie fühlen sich solidarisch, und, über den
Weg der Gleichsetzung, greifen sie jüdische Symbole, mangels
israelischer Zielscheiben, an.
Die Macht der Bilder wird von jungen muslimischen Bürgerinitiativlern,
wie Ali Rahmi, von Rencontres et Dialogues in Roubaix
(Nordfrankreich) ebenfalls herausgestellt. Der Regisseur Mehdi Lalloui,
der seit über 20 Jahren in den banlieues arbeitet, erklärt: "Wir,
die seit Jahren den Rassismus bekämpfen... hören in manchen Vereine
inakzeptablen Reden. Die von manchen Bildern ausgelösten Gefühlen
rechtfertigen keinerlei Entgleisung. Wir schulden es uns, die Dinge beim
Namen zu nennen. Sicher sind diese Entgleisungen minoritär, doch
wenn wir nichts sagen, ist das eine Botschaft, die wir den
organisierteren Gruppen senden, die darunter verstehen: "wir können es
machen". Eine bestimmte Form intellektuellen Komforts besteht darin, die
Augen zu verschließen. Während des Golfkriegs haben wir sowas nicht
erlebt. Es war uns gelungen, die Wut zu kanalisieren. Das müssen wir
wieder schaffen..."
Am 18 Oktober 2001 hat der Rektor der Pariser Moschee, Dalil Bourbakeur
- der wegen seiner Gemäßigtheit und seiner Beteiligung am
interreligiösen Dialog bekannt ist- im Radiosender RTL versichert, in
der muslimischen Gemeinde Frankreichs sei die Stimmung "überhaupt
nicht auf Aggression" ausgerichtet, während er zugleich zurecht
ironisierte: "Sollte die muslimische Gemeinde Frankreichs
propalästinensischer sein als selbst die Araber?". Gewiß. Doch die
Solidarität dieser jungen Generation mit den Palästinensern, wenn es
nicht gar Mimikry ist -Tragen des keffieh, Gleichsetzung der
banlieues mit den besetzten Gebieten - ist heute unvergleichlich stärker
als seinerzeit die Identifikation mit den bosnischen Moslems oder den
Tschetschenen. Das ist die Generation der um Integration oder Wachstum
Betrogenen. Diese Jugendlichen, verloren oder verlassen, suchen sich
einen Standort zwischen der Alptraumwelt ihrer Trabantenstadt und dem "bled"
(Dorf) einem imaginären oder realen Heimatort igendwo (Marokko,
Tunesien, Algerien...), in einem Land, dem sie nicht mehr oder überhaupt
nicht physisch angehören. Diese Identifikation geht jedoch noch tiefer.
Ihrer Meinung nach herrscht auch eine Ungleichheit in dem eingräumten
Statuten: "Die Juden sind immer die Opfer, die Araber sind immer
diejenigen, die schlecht gemacht werden, ob hier oder dort."
....Diese Folge von Drohungen und Aggressionen, diese Radikalisierung,
diese judenfeindlichen Reden sind eine Warnung. Es steht einigermaßen
außer Frage, dass die Gewalt weitergehen wird. Niemand kann vorhersagen,
was passieren wird, wenn die Militäroperationen in Afghanistan sich in
die Länge ziehen oder sich festfahren. Niemand kann einschätzen, wie es
um die verschiedenen Gemeinden bestellt sein wird, wenn im Nahen Osten
sich die Situation brutal verschlechtert. Die Identifikation und die
Spannung sind derart groß, dass die antijüdischen Taten und Überfälle,
oder umgekehrt die antimuslimischen - denn die Gefahr ist genauso groß,
dass es zu untolerierbarer antimuslimischer Gewalt kommt - sich
zumindest fortsetzen oder sogar verschärfen werden.
Was werden unsere Politiker tun?
(...) Ich wette, dass solange kein Öl aufs Feuer gegossen werden wird,
bis zu dem Augenblick an dem aus den Parolen Leiden wird, bis zu dem
Moment, an dem Überfälle Tote nach sich ziehen werden. Wird es dann
nicht zu spät sein?
Wir müssen an das fundamentale Prinzip erinnern: wir müssen alle
voneinander lernen, miteinander leben, dieselben Rechte und dieselben
Pflichten teilen und die Würde jedes einzelnen respektieren.