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Judentum und Israel
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Was ist "Leitkultur im christlichen Abendland"?
Alleinvertretungsansprüche zurückweisen

Von Cem Özdemir

Am 17. Mai beriet der Bundestag auf seiner 170. Plenarsitzung die Große Anfrage der CDU/CSU Fraktion zum "Islam in Deutschland". In dieser Debatte sprach für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der Abgeordnete Cem Özdemir. Wir dokumentieren hier seine Rede in einer gekürzten Fassung.

Wir werden dem Islam in seinem zivilisatorischen Kontext nur dann gerecht, wenn wir begreifen, dass der Islam im Prinzip kein Problem mit Pluralismus, mit Rationalismus und auch mit Wissenschaft hat. Im maurischen Spanien ist das zustande gekommen, was wir heute westliche moderne Zivilisation nennen. Es ist der Islam, der häufig mit dem Islam, wie er uns heute entgegentritt, einem eher bäuerlich geprägten Volksislam, verwechselt wird. Islamische Gesellschaften haben gerade in der zivilisatorisch bedeutsamen Blütezeit Platz für Menschen gehabt, die nicht Teil des Islams waren, die andersgläubig waren, die nicht praktizierten. Man kann nicht von einem streng islamisch – monolithischen Gesellschaftsaufbau sprechen. Wenn wir hingegen von Fundamentalismus sprechen, dann dürfen wir diesen nicht mit dem gesamten Islam gleichsetzen. Der Versuch von frommen, orthodoxen Muslimen, einen uniformen Islam zu kreieren, muss zurückgewiesen werden. Dieser Versuch, den es in der Geschichte des Islam immer gab, wird der Breite des Islam nicht gerecht. Der Wunsch nach einer islamischen Dachorganisation, die analog zu den christlichen Amtskirchen aufgebaut ist, wird das Gegenteil dessen bewirken, was wir wollen.

Ich kann sehr gut verstehen, dass gerade die Landesregierungen den Wunsch verspüren, einen Ansprechpartner auf Landesebene zu bekommen, mit dem man den Religionsunterricht und viele andere praktische Probleme regeln kann. Aber wir dürfen vom Islam nicht Dinge verlangen, die nicht Bestandteil des Islam sind. Das Bild des Christentums – das Jesuswort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist" - ist nicht 1:1 auf den Islam übertragbar. Eine vergleichbare, volkskirchenartige Struktur sollte deshalb vom Islam nicht verlangt werden. Die Konsequenz daraus wäre eher, dass die Gruppen sich durchsetzten, von deren Durchsetzung wir nicht unbedingt begeistert wären. Gerade weil das so ist, ist eine Quantifikation, wie viele Muslime in Deutschland und in Europa leben, sehr schwierig. Wer ist denn, bitte schön, Muslim? Welche Institution definiert, wer Muslim ist? Ich bin mit meiner Geburt Muslim geworden. Die Tatsache, dass meine Eltern Muslime sind, macht mich zum Muslim. Das Verlassen des Islam ist nur durch Konversion oder Tod möglich; das muss beides nicht unbedingt sein. Daher rate ich dazu, bei der Diskussion zu berücksichtigen, dass wir es mit einer völlig anderen Struktur zu tun haben und dass die Strukturen des Islam im Hinblick auf Eintritt und Austritt nicht mit denen des Christentums vergleichbar sind. Insofern sollten wir den Anspruch aufgeben, das zu definieren. Wir sollten islamistischen, orthodoxen Organisationen nicht erlauben, zu definieren, wer Muslim ist und wer nicht. Wir sollten ihnen nicht erlauben, zu definieren, dass der Muslim eine bestimmte Religionspraxis haben muss, damit er als gläubiger Muslim gelten kann. Wir sollten aber gleichzeitig auch selber diesen Anspruch nicht erheben. Nur dann kommen wir der Aufgabe nach, die wir in der Demokratie zu leisten haben, nämlich dass wir diejenigen in der säkularen Gesellschaft schützen, die sich zwar Muslime nennen, deren religiöse Praxis sich aber diametral von der Praxis orthodoxer Muslime unterscheidet. In der Demokratie muss es also möglich sein, dass Menschen nicht bzw. anders praktizieren. Es muss möglich sein, dass einige Menschen den Ramadan einhalten, während dies andere nicht tun. Beides muss in der Demokratie erlaubt und möglich sein. Diesen Schutz zu gewährleisten ist unsere Aufgabe als Demokraten.<O:P</O:P

Man muss deshalb das Gespräch mit den unterschiedlichsten Organisationen suchen. Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland ist heterogen, so wie er auch weltweit heterogen ist. Es gibt Muslime aus unterschiedlichen Ländern, die unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedlichen Konfessionen angehören. Innerhalb der jeweiligen Konfessionen gibt es unterschiedliche Rechtsschulen und Sekten. Viele Phänomene, die uns ärgern, sind auf Sekten und nichts anderes zurückzuführen. Diese mit dem Islam gleichzusetzen wäre ungefähr so, als wenn Sie eine christliche Sekte mit dem Christentum gleichsetzten. Ich glaube, das sollten wir weder beim Christentum noch beim Islam machen. Es wird uns nicht erspart bleiben, dass wir das Gespräch mit vielen, nicht nur mit einer Organisation suchen. Auf der Basis der Werte unserer Verfassung, die von Muslimen, Juden, Christen, Atheisten, von allen getragen werden kann, muss man sich mit unterschiedlichen Organisationen über die Frage des Religionsunterrichts unterhalten. Dieser Religionsunterricht muss in deutscher Sprache von Lehrern, die bei uns ausgebildet wurden, durchgeführt werden. Selbstverständlich werden wir dabei die Erkenntnisse der al-Azhar-Moschee und der Theologischen Fakultät von Istanbul einbeziehen. Die Theologen werden aber hier in deutscher Sprache ausgebildet. Diese werden in Deutschland unter der Verantwortung des jeweiligen Kultusministeriums die Kinder im Vormittagsunterricht und nicht in der Weise eines Konsulatsmodells unterrichten. Ich glaube, so kommen wir auf den Weg, den wir alle gemeinsam gehen wollen.

Warum ich in dieser Frage so insistiere, will ich an einem Beispiel deutlich machen. Mir scheint es, dass sich hier ein weit verbreiteter Irrtum eingeschlichen hat, dass nämlich Säkularismus und die Verteidigung des Laizismus mit einer autoritären Struktur gleichgesetzt wird. Als Beispiel dafür wird gerne die Türkei angeführt. Es waren nun gerade die Putschisten des 12. September 1980 in der Türkei, die dort den zwangsweise muslimisch – sunnitischen Religionsunterricht eingeführt haben, zu Beginn übrigens auch für die Christen. Heute noch ist dieser Unterricht für alevitische Kinder verpflichtend. Sie müssen sich vorstellen, dass Sie in der Schule im Religionsunterricht lernen, dass die Religionsgemeinschaft, der Sie angehören, etwas Verwerfliches ist. Ich möchte verhindern, dass das auf deutschem Boden - egal, wer in welchem Land regiert – oder wo auch immer in Europa geschieht.

Wir haben eine Verantwortung für die Heterodoxen und für die Minderheiten im Islam, ob es die Bahai oder die Aleviten sind. Auch für deren Schutz sind wir gewählt. Deren Rechte müssen wir durchsetzen und verteidigen. Es kann in der Demokratie keinen Alleinvertretungsanspruch geben. Keiner der so genannten Dachverbände kann den Anspruch erheben, dass er allein für alle Muslime in der Bundesrepublik spricht. Genauso wenig wie die katholische Kirche den Anspruch erheben kann, dass sie auch für die Protestanten spricht, kann es die protestantische Kirche für andere. Dieses gilt übertragen auch für den Islam. Es muss deshalb ein Dialog mit allen Organisationen auf der Basis des Grundgesetzes stattfinden, Alleinvertretungsansprüche müssen zurückgewiesen werden. Das Recht, ein Bild zu definieren, wie der Muslim zu sein hat, hat niemand. Ein solches gilt es ebenso zurückzuweisen. Die islamische Theologie gewährt niemandem eine Definitionsgewalt. Das Kalifat gibt es nicht mehr; auch wir werden es nicht einführen. Deshalb hat niemand das Recht, zu sagen, dieser sei ein guter Muslim und diese sei eine schlechte Muslima. Unsere Demokratie muss dafür Sorge tragen, dass die Menschen, die bei uns leben, unabhängig von ihrer Herkunft – es gibt zunehmend auch deutsche Muslime, Menschen, die hier geboren sind und muslimischen Glaubens sind – bei uns geschützt sind. Ich will verhindern, dass folgende Situation in der Bundesrepublik Realität wird: In der Türkei gibt es Gebiete, wo der religiöse Druck besonders groß ist, weil die Orthodoxen in der Mehrheit sind. Dort stehen Menschen – vor allem Aleviten – im Fastenmonat morgens auf und schalten das Licht ein, damit es so aussieht, dass sie sich an die im Fastenmonat geltenden Regeln halten. Die Nachbarn sollen nicht den Eindruck haben, sie seien schlechte Muslime oder sie würden den Islam nicht praktizieren. Diese Situation wird auch in der Türkei kritisiert. Ich möchte verhindern, dass diese Situation in Deutschland eintritt, dass in bestimmten Quartieren Menschen der Meinung sind, dass sie nur dann als gute Muslime von ihrer Nachbarschaft akzeptiert werden, wenn sie eine bestimmte Praxis des Islam beachten. Es ist unsere Aufgabe, das zu verhindern.

Ich glaube, dass diese Gesellschaft eine Chance hat, einen Dialog in Gang zu setzen. Wir dürfen allerdings nicht den Eindruck erwecken, uns würde es darum gehen, eine Art deutschen Islam zu schaffen. Dieses ist theologisch nicht haltbar. Der Staat hat nicht das Recht und auch nicht die Aufgabe, zu definieren, welches die richtige und welches die falsche Religion ist. Wir müssen den Muslimen hier die Chance geben, eine eigene Glaubenspraxis zu entwickeln. Das Gespräch zwischen Juden, Muslimen, Christen, Atheisten und Andersgläubigen in der Bundesrepublik kann eine Chance sein, den weltweiten Dialog der Weltregionen zu fördern, wenn es darum geht, die Schöpfung zu bewahren und sich für den Weltfrieden sowie für die Gerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Die großen Buchreligionen haben eine gemeinsame Verantwortung, sich stärker für den Dialog einzusetzen und sich dem Druck der Politik entgegenzusetzen, die in vielen Ländern versucht, die Religion für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Das Zusammenleben von Muslimen, Christen, Juden, Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften, aber auch Konfessionslosen kann nicht auf der Grundlage einer virtuellen abendländischen Identität aufgebaut werden. Die Sicherung des christlichen Abendlandes gegen den Islam gehört der Vergangenheit an. Siege über Mauren und Türken dürfen nicht das moderne Bild einer kulturell vielfältigen Gesellschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik längst haben, prägen. Das konstituierende Element Europas ist gerade der Gedanke der Vielfalt. Deshalb gilt: All diejenigen, die sich zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennen, sind in diesem Land willkommen. Wenn sie hier leben, dann sind sie Teil unserer Gesellschaft, egal, welchen Glaubens sie sind. Deshalb ist der Islam Bestandteil Europas genauso wie der Bundesrepublik Deutschland.

klick-nach-rechts.de

27.07.2001

 


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