Jugendliche Lebenswelten und Kriminalstatistiken
Eine Frage der Wahrnehmung
von HEIKE KLEFFNER
Im brandenburgischen Eisenhüttenstadt klagen
Jugendliche über zahlreiche Übergriffe von rechten Altersgenossen. Doch
in der Polizeistatistik tauchen sie selbst nach Anzeigen nicht als
solche auf.
Rot gefärbte lange Haare, blonde Stoppeln, saubere
Marken-Sweatshirts und löcherige schwarze Jeans: Tina, Lisa, Frank und
Matthias (alle Namen geändert), die auf einer Couch im offenen Bereich
der Jugendbegegnungsstätte Jubs in Eisenhüttenstadt sitzen, könnten
unterschiedlicher nicht sein. "Du bist doch ne Punk-Rockerbraut,"
spottet der 16-jährige Matthias über den schwarz-roten Kleidungsmix der
gleichaltrigen Tina. "Und du bist nur ein Möchtegern-HipHopper", gibt
das Mädchen lachend zurück und zeigt auf Matthias weite Jeanshosen.
Einig sind sich die 14- bis 16-jährigen Jugendlichen
lediglich darin, dass "die Schubladen" sich schnell verändern können und
"eigentlich auch nicht wirklich stimmen". "Ich höre schließlich auch
Punk-Musik zu Hause", sagt der vermeintliche HipHopper Matthias.
Vielleicht sei er eher "ein BMXer", weil er ständig mit dem Fahrrad
zwischen den Plattenbauten düst. Bei allen Unterschieden haben die
Jugendlichen, die sich fast täglich in den selbstgestalteten Räumen des
Jubs treffen, noch eine weitere Gemeinsamkeit: "Wir sind keine Rechten",
sagt Tina stolz.
Bei Matthias war das früher anders: "Als ich 14 war,
hatte ich einen Freund, der in einer rechten Clique war. Da fand ich es
selbstverständlich, dass ich mich auch so angezogen habe wie die - mit
Bomberjacke und kurzen Haaren." Geändert hat sich seine Einstellung, als
er ins Jubs kam. "Da hab ich gemerkt, dass die Rechten total stumpf
sind, gar keinen Spaß haben, immer nur dumm und ordentlich aussehen
wollen und sich schlagen."
Beim Stichwort "schlagen" streicht sich die bis dahin
stille Lisa nervös übers Gesicht. Noch immer machen ihr die Erinnerungen
an den 12. Januar zu schaffen. Da radelte sie frühmorgens um kurz nach 6
alleine zur Schule, als sie "plötzlich an einer Ecke beim Aldi eine
Gruppe schwarz gekleideter Faschos" sah. "Ich hab gedacht, dass die
einem Mädchen nichts tun würden, und bin weitergefahren", sagt Lisa.
Doch zwei der jungen Männer mit Kapuzen über dem Kopf zogen sie vom
Fahrrad und traten auf sie ein. Immer wieder schlug sie mit dem Kopf
gegen die Bordsteinkante.
"Einer aus der Gruppe hat dann gefragt, ob sie mich
richtig fertig machen sollen", erinnert sich das Mädchen. Sie ist sich
sicher, dass es sich bei den Angreifern um Rechte handelte. "Ich hab auf
dem Boden gelegen und gesehen, dass sie alle Springerstiefel anhatten."
Im Schulsekretariat habe sie später erzählt, was passiert sei. "Die
Lehrer haben die Polizei gerufen." Anzeige hat sie trotzdem nicht
erstattet. "Ich habe Angst, dass ich dann noch mehr Stress bekomme."
Die anderen Jugendlichen am Tisch nicken. Alle haben
eigene Erfahrungen mit "den Glatzen", die meistens genauso alt sind wie
sie selbst. Die Gymnasiastin Tina berichtet von den drei Skinheads, die
sie am 25. Februar in der Nähe der DEA-Tankstelle wegen eines "Gegen
Nazis"-Aufnähers auf ihrem Rucksack erst anpöbelten und dann mit einem
Messer schrammten. Erst nach zwei Wochen vertraute sich Tina ihren
Freunden im Jubs und der Sozialarbeiterin Ute Ebert an und berichtete
auch von Zetteln in ihrem Briefkasten: "Wir kriegen dich als Erstes",
stand da in krakeliger Handschrift.
Ein Mitarbeiter der Beratungsstelle für Opfer rechter
Gewalt (Borg) aus Frankfurt (Oder), die Ebert um Unterstützung bat, riet
dazu, Anzeige zu erstatten. Das hat Tina auch gemacht, doch besonders
ermutigend sei das nicht gewesen. Der Beamte habe sie überhaupt nicht
nach "irgendwelchen rechten Hintergründen gefragt".
Auch Frank wurde gemeinsam mit drei anderen HipHopper-
Freunden aus dem Jubs am Abend des 15. Juni auf der Kanalbrücke von zehn
rechten Jugendlicher zunächst angepöbelt. "Wir haben dann gedacht, dass
es besser wäre, erst mal was mit denen zu trinken", sagt Frank. Nach
einiger Zeit, in der die Rechten zunehmend drohender auftraten, gelang
es ihm und zwei anderen Freunden, wegzulaufen. Aber sein Freund Klaus
hatte Pech. Ihn hielten die Rechten zurück und schlugen eineinhalb
Stunden auf ihn ein.
Währenddessen rief Frank den Polizeinotruf 110 an.
"Aber die haben nur gesagt, dass sie gerade keinen Streifenwagen
freihaben, und dann aufgelegt", erinnert er sich. Mit seinem Vater
suchte er nach seinem Freund, den sie schließlich mit Würgemalen am
Hals, Kopfverletzungen und Prellungen am Bauch fanden und ins
Krankenhaus brachten. Auch in diesem Fall wurde Anzeige erstattet,
berichtet Ebert. Frank sagt, die Beamten hätten ihm bei seiner
Zeugenvernehmung nicht einmal Fotos gezeigt. Dann erzählt er stockend
den Drohungen, die er seit dem Angriff als SMS auf seinem Handy erhalten
hat.
Die 35-jährige Sozialarbeiterin Ute Ebert hat das
städtisch geförderte Jubs in den letzten zwei Jahren mit aufgebaut. Die
Räume stünden allen offen, betont sie, "auch rechtsorientierten". Im
vergangenen Winter hatte sie eine rechte Clique ins Haus geholt. "Das
war zwar nicht einfach für die anderen, aber es gab auch viele
konstruktive Gespräche." Einige aus der Clique sind geblieben, die
Wortführer hätten sich aber im Sommer wieder "nach draußen orientiert".
Für Ebert und die Jugendlichen vom Clubrat war der
Angriff vom 15. Juni der Anlass, die Eisenhüttenstädter Polizei zu einem
Gespräch ins Jubs einzuladen. Doch der Leiter des Schutzbereiches hat er
nach den Sommerferien einen Termin frei. Ebert hofft, dass man ihren
"Hilfeschrei" ernst nimmt: "Wir wollen die Polizei nicht anklagen,
sondern nur mit den Beamten über die zunehmende rechte Gewalt reden."
In der Behördensprache des Landeskriminalamts
Brandenburg hört sich die rechte Straßengewalt in Eisenhüttenstadt
weniger bedrohlich als vielmehr statistisch-abstrakt an: Im Jahr 2000
registrierte das LKA in Eisenhüttenstadt nur ein rechtsextremes Gewalt-
und ein Propagandadelikt. Dazu kamen vier fremdenfeindlich motivierte
Gewalttaten, ein fremdenfeindliches Propagandadelikt und drei "sonstige"
fremdenfeindlich motivierte Straftaten.
Der amtierende Leiter des 4. Kommissariats im
Polizeipräsidium Frankfurt (Oder), das auch für die Verfolgung und
Bearbeitung der so genannten Staatsschutzdelikte in Eisenhüttenstadt
zuständig ist, ist davon überzeugt, dass es in diesem Jahr "ruhiger
geworden ist". Sorgen macht Andreas Herrgoß jedoch, dass diese
Entwicklung durch die neuen Kriterien zur Erfassung rechtsextrem und
rassistisch motivierter Straftaten, die das Bundeskriminalamt inzwischen
erarbeitet hat, nicht widergespiegelt würde.
Wenn das Polizeipräsidium Frankfurt (Oder) demnächst
die Halbjahresstatistik 2001 vorlegen wird, "werden die Zahlen gestiegen
sein, ohne dass dies die Realität wiedergibt", sagt Herrgoß. Er ist sich
sicher, dass die Polizeibeamten im Schutzbereich Eisenhüttenstadt "für
das Thema Rechtsextremismus sehr sensibilisiert sind". Schließlich
würden sie vor Ort den Druck durch die Politik unmittelbar zu spüren
bekommen. "Hier wird nichts vertuscht", sagt Herrgoß mit Nachdruck. Eine
Zunahme von Übergriffen rechter Skins auf nicht-rechte Jugendliche
verneint er entschieden.
Die Angriffe auf Tina, Lisa, Frank und Matthias hat
sein Kommissariat nicht bearbeitet. Dafür müssten die Polizisten in
Eisenhüttenstadt dem Staatsschutz einen entsprechenden politischen
Hintergrund melden. Und den gibt es nach Ansicht von Jürgen Dolass, dem
Leiter der Polizeihauptwache Eisenhüttenstadt, nicht. Er ist überzeugt,
dass es sich um "ganz normale Körperverletzungsdelikte" handelt. Bei der
Aufnahme der Anzeigen hätten seine Beamten nichts herausgefunden, was
"in Richtung links oder rechts" ginge. Im Übrigen würde "in der Regel
das Opfer zu den vermuteten Hintergründen der Tat befragt," versichert
Dolass. Auch in den strittigen Fällen hätten seine Beamten sauber
ermittelt.
Robin Kendon beschäftigt sich seit längerem mit der
offensichtlich konträren Wahrnehmung von rechter Gewalt. Als Mitarbeiter
im Regionalteam Ostbrandenburg der "Mobilen Beratungsteams" (MBT)
betreut er verschiedene Jugendprojekte in Eisenhüttenstadt. "Die
klassischen Kriterien für politisch motivierte Straftaten greifen nicht
für die Verhaltensmuster einer rechten Jugendszene, in der Gewalt
einerseits ideologisch legitimiert und andererseits als legitimes Mittel
insbesondere in der Auseinandersetzung mit allem Fremden gesehen wird",
erklärt Kendon die offensichtlich konträre Wahrnehmung von rechter
Gewalt.
In Eisenhüttenstadt und vergleichbaren Städten ginge
es nicht darum, dass rechtsorientierte Jugendliche oder auch
Rechtsextremisten militante Zellen aufbauen und damit ein klar fassbares
Staatsschutzdelikt begehen würden. Vielmehr seien hier Jugendliche aus
der rechten Szene gewalttätig, weil deren durch rechtsextreme Musik und
den rechten Diskurs geprägtes Weltbild Übergriffe legitimiere. Kendon
ist überzeugt, dass es sich bei derartigen Angriffen "um eine Gewalt mit
rechtem Hintergrund handelt." Wenn die Opfer wie Tina und Lisa die Täter
aus rechten Skinheadcliquen kennen würden, sei es für die nicht-rechten
Jugendlichen nahe liegend, dass sie aufgrund ihrer Ablehnung des rechten
Weltbilds angegriffen würden.
Kendon befürchtet, dass die nicht-rechten Jugendlichen
das Vertrauen in die Polizei verlieren, wenn ihre Wahrnehmung von den
Beamten nicht ernst genommen wird. Er hofft, dass durch das Gespräch mit
der Polizei im September eine bessere Verständigung erreicht wird.
Marcus Reinert von der Beratungsstelle für Opfer Rechter Gewalt ist da
skeptischer. Er hat beobachtet, dass die Angst der nicht-rechten
Jugendlichen, Anzeige zu erstatten, zugenommen hat. "Einige Beamte in
der Polizeiwache haben einfach keine Sensibilität für die Problematik
und fühlen sich auch noch auf den Schlips getreten, wenn man ihrer
bereinigten Statistik wiederspricht", sagt Reinert.
Sein Fazit nach einem
halben Jahr intensiver Beratungstätigkeit in Eisenhüttenstadt: "Hier
muss der Aufstand der Anständigen noch ein paar Hürden nehmen."
taz Nr. 6517 vom 8.8.2001
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13.08.2001 |