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Wurzen

Eine Stadt ist in Aufruhr

Wir dokumentieren an dieser Stelle einen Artikel des Netzwerk Demokratische Kultur, um aufzuzeigen wie in Kleinstädten auch sinnvolle Versuche eine demokratische Kultur in Deutschland zu entwickeln immer wieder behindert werden und dies nicht nur durch die offenen Anhänger einer menschenverachtenden Kultur mit Namen Nazismus. Die Schreibweise des Originals haben wir dabei beibehalten. IS

Die Stadt ist in Aufruhr. Eine Email - vor 3 Jahren sicherlich für viele noch ein Fremdwort - macht die Runde. Eine Email und soviel Aufregung? Soviel davon, wie noch nie in Wurzen erlebt. 

Am Abend des 21. April 2001 passierte in Wurzen etwas unglaubliches. Ein fettes HipHop Konzert gegen rechte Gewalt vor dem Gymnasium brachte 400 junge Menschen aus dem Muldentalkreis zum toben. Die HipHop Tour - mit weiteren Stationen unter anderem in Neustadt a. d. Orla und Eberswalde - wurde von verschiedenen Firmen, Stiftungen und Medien organisiert.


Überall waren die Konzerte gut besucht und bis auf Wurzen auch ohne große Aufregung abgelaufen. Was war passiert? Gleichzeitig mit dem Konzert endete die Wurzener Boxnacht. Genau von dieser Veranstaltung machten sich etwa 50 bis 60 rechtsgerichtete Gäste auf den Weg zum Konzertgelände. Aus Angst kehrte ein Teil der Konzertbesucher wieder zum Veranstaltungsort zurück. Eingeschüchterte KünstlerInnen und BesucherInnen sammelten sich im Backstagebereich auf dem Konzertgelände. Nur Dank des schnellen Eingreifens von Polizei und Securitykräften konnte eine Eskalation verhindert werden. 

Schon während des Nachmittagsprogramms - etwa hundert Leute sprayten, spielten Basketball, nutzten die Halfpipe - kam es immer wieder zu Provokationen durch vorbeifahrende Rechte. Es fielen Sprüche, wie »Wir bringen Euch um!« und »Sieg Heil!«. Anstatt das angemeldete Rahmenprogramm vor solchen verbalen Attacken zu schützen, nahm ein übereifriger Polizist den bundesweit bekannten Graffiti - Künstler Codeak aus Hamburg vorübergehend in Gewahrsam. Trotz dieser unschönen Vorkommnisse am Rande ließen sich OrganisatorInnen, KünstlerInnen und Gäste nicht aus der Ruhe bringen. 

Nach dem Konzert blieben zwei Eindrücke: Geiles Konzert für prima Kids. Und: Warum gibt's hier so viele Rechte? Nach dem Konzert schrieb eine Organisatorin des Konzertes ihrem engen Freundeskreis ihre persönlichen Eindrücke. Durch zahlreiche
Weiterleitungen wurde dieser Bericht zum Kettenbrief im Internet. Seit einiger Zeit sehen sich die Verantwortlichen der Stadt Wurzen, u.a. durch den Emailbericht, heftiger öffentlicher Kritik ausgesetzt.

Beim örtlichen Veranstalter des HipHop - Konzertes gab es leider nur drei Nachfragen, viele Verantwortliche der Stadt hatten gleich eine harte Antwort parat: Strafanzeige. Auf öffentlichen Veranstaltungen z.B. im Stadtrat und auf Wahlveranstaltungen wird seit dem heftig gegen den Bericht polemisiert. Aus unserer Sicht hat der öffentliche Umgang mit dem Bericht ein Manko. Das spürbare öffentliche Klima in
der Stadt, das zur Entstehung solcher Eindrücke führt, wird
verdrängt. Seit im August 1991 das Flüchtlingsheim überfallen und die Flüchtlinge vertrieben wurden, gibt es vor Ort kein Asylbewerberheim mehr. Der Anteil der MigrantInnen liegt heute in Wurzen bei 0,78%, in Sachsen bei 2,3 % (Quelle: Statistisches Bundesamt). 

Als 1996 portugiesische Gastarbeiter, die am Wurzener Gymnasium arbeiteten, überfallen wurden, bekamen die jugendlichen Straftäter einen eigenen Treff zur Verfügung gestellt - die Baracke hinter dem Stadthaus. Der Ruf der Stadt, eine rechte Hochburg zu sein, ist alt. Seit 1996
werden Presseanfragen zu diesem Thema von der Stadt nicht mehr beantwortet. Nachdem im Oktober 2000 Jugendliche im Cliquentreff der Arbeiterwohlfahrt von fünfzehn rechtsgerichteten Tätern überfallen wurden, schloss die Arbeiterwohlfahrt den Treff. 

Die Strategie rechter Strukturen ist es, öffentliche Räume zu besetzen. Die beiden Wurzener Jugendhäuser werden vornehmlich von rechten Jugendlichen besucht. Dies bekam ein Kamerateam der ARD am 22. Mai 2001 bei einer Recherche zu spüren. Im Jugendclub »Schweizergarten« bekam das Fernsehteam keine Drehgenehmigung. Im Jugendhaus »Alte Nischwitzer Straße« beschimpften die anwesenden Jugendlichen das Team und forderten Sie auf, mit dem Drehen aufzuhören. Sprüche wie »Linke Presse!« flogen durch den Raum. Die Halfpipe an der Schwimmhalle ist einer der letzten öffentlichen Treffpunkte für nicht-rechte Jugendliche. Dort
attackieren rechtsgerichtete Jugendliche die anwesenden Sprayer und Skater seit Wochen. Die Dank der Firma »GEA - Luft- und Klimatechnik GmbH« zur Verfügung gestellten Sprayflächen sind bereits von verbotener Nazisymbolik, z.B. der »88« (Synonym für den achten Buchstaben des Alphabets = HH = Heil Hitler) und »14« (Symbol für die vierzehn Worte «Wir müssen die Existenz unserer Rasse und die Zukunft
für die weissen Kinder schützen«) übersät. (Quelle: Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen, 2000: »Mit Hakenkreuz und Totenkopf«, S. 34) 

Schuld scheinen in Wurzen immer die Anderen zu sein - die Opfer rechtsextremer Gewalttaten und diejenigen, die auf diese Zustände aufmerksam machen. Würde die Stadt die Opfer nicht immer wieder allein lassen, sondern sich mit Ihnen solidarisieren, verließen weitaus weniger junge Leute die Stadt. Nicht nur Ausbildungsplatzmangel ist ein Grund wegzuziehen, sondern die Angst in Wurzen zu leben. In Wurzen fehlt ein Haus, in dem klar ist, dass Menschen mit antidemokratischen, menschenverachtenden und rassistischen Einstellungen keinen Platz haben. Selbstzufriedene PolitikerInnen diskutieren derweil im Stadtrat etwas anderes. Unter Beifall von NPD und CDU werden Strafanzeigen wegen »Hetzkampagnen gegen die Stadt im Internet« gestellt. 

Auf Einladung des »Muldentaler Forums für die Unantastbarkeit der Menschenwürde und gegen Gewalt« traf sich Forum mit Stadtrat und -verwaltung zu eine Diskussionsrunde am 17. Mai in Wurzen. Dort ging Frau Daum, Stadträtin der SPD - Fraktion, einen Schritt über das andauernde Wegleugnen rechter Gewalt in Wurzen hinaus: »In Zukunft müssen wir die Geldvergaben an schlüssigen Konzepten festmachen. Die akzeptierende Jugendsozialarbeit darf nicht weiter gefördert werden«. So ihr konstruktiver Vorschlag. Als am 23. Mai 2001 die LVZ zu einem Wahlforum der OBM - Kandidaten lud, beschwerte sich u.a. der Kandidat Schmidt über den Imageschaden durch die Email für die Stadt. 

Die Chance zur konstruktiven Auseinandersetzung mit der Email und den in ihr angesprochenen klimatischen Wahrnehmungen von Wurzen wurde jedoch auf dieser Veranstaltung weder von OBM - Kandidat Schmidt noch von
seinem Kontrahenten Konheiser ergriffen. Wir meinen: Das Klima in der Stadt Wurzen und das daher rührende Image der Stadt schadet der hier ansässigen Wirtschaft schon seit Jahren. Nur eine konstruktive Debatte über die Situation und eine selbstkritischere Einschätzung der eigenen politischen Wahrnehmungen hilft uns hier weiter, an der sich Politik und vor allem die Zivilgesellschaft beteiligen muss.

Darum laden wir alle zum Diskurs über die Situation in Wurzen. Nur so kann Bewegung entstehen und Veränderungen bewirken. Angebot zum Dialog Die von vielen - stellenweise zu recht - kritisierte E-Mail einer Organisatorin der HipHop-Tour »Die Leude woll´n, daß was passiert« ist eine private E-Mail an ihr bekannte Menschen. Somit ein Dokument, dass
durch ihre eigenen und subjektiven Wahrnehmungen und Eindrücke bei dem Konzert gegen rechte Gewalt in Wurzen entstanden sind. Dass durch die moderne Kommunikation der Bericht eine große Verbreitung erfahren konnte, kann niemandem angelastet werden. 

Auch wir sind in Teilen der E-Mail sehr gegensätzlicher Ansicht. Dies fordert uns aber um so mehr auf, zusammen mit anderen demokratisch eingestellten Menschen in einen sachlichen Dialog zu treten, um einerseits offenbar existierende Missverständnisse aufzuklären und andererseits weiter intensiv an einer Situationsanalyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in und um Wurzen zu arbeiten und zu versuchen, einer hier durchaus real existierenden starken rechten Dominanz entgegenzutreten. 

Für sehr bedauerlich halten wir den Eindruck Meikes, dass alle Wurzenerinnen und Wurzener, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker und Beamte der Polizei Nazis wären. Dass dem nicht so ist, bestätigt u.a. gerade die Tatsache, dass engagierte Wurzenerinnen und Wurzener dafür gesorgt haben, dass die Internationale Wanderausstellung »Anne Frank - eine Geschichte für heute« einen Monat lang in Wurzen zu sehen ist. Wir, die Bürgerinnen der Stadt Wurzen, dürfen bei aller Kritik aber nicht der Versuchung erliegen, uns reinwaschen zu wollen und über jegliche Kritik - auch von außen - erhaben zu sein. Im Gegenteil. Wir dürfen die Augen nicht verschließen vor rechter Gewalt und der Entwicklung, die dieser vorausgeht. 

In Wurzen besteht noch immer - wie in anderen Kleinstädten der Republik auch - eine hervorragend entwickelte und über die Stadtgrenzen hinaus etablierte Neonazi-Szene mit einer gut ausgebauten Struktur und Logistik. Es gibt immer noch gewalttätige und rechtsextremistisch motivierte Übergriffe auf Andersdenkende, Andersaussehende und Anderslebende, auf vietnamesische Geschäfte, kurdische Dönerimbisse, deutschstämmige Aussiedler, Skater und Punks.

Sorgen wir gemeinsam dafür, dass die subjektiven Eindrücke der Gäste unserer Stadt zukünftig davon zeugen werden, dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner Wurzens entschieden gegen rechten Dumpfsinn, Fremdenfeindlichkeit, rassistische und antisemitische Ressentiments stellen und für Weltoffenheit und Integration aller demokratisch gesinnten Menschen stehen. Machen wir uns Lea Roshs Worte
bei der Eröffnungsveranstaltung der »Anne - Frank - Ausstellung« zu eigen, als sie mit Verweis auf die jüngsten Beispiele von Gewalt gegen Ausländer forderte: »Wir dürfen uns das alles nicht gefallen lassen«
Netzwerk für Demokratische Kultur e.V.

Quelle: Wurzener Extrablatt #10 

von F. Bringt, D. Hartenauer, I. Hentschker, I. Stange, M. Zeeh 


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