Ist Aufklärung über NS-Verbrecher
kriminell?
Dokumentation:
Stellungnahme zu Hausdurchsuchungen
und Vorwürfen
im Fall Titho
Carl-Friedrich Titho, Mitglied der SS seit 1932, war als
NS-Lagerleiter in Fossoli bei Modena in Norditalien mitverantwortlich
für die Deportation tausender Juden und Antifaschisten in die
Vernichtungslager. Während seiner Kommandantur wurden zudem 69 Gefangene
als Vergeltungsaktion für einen Angriff italienischer Partisanen
erschossen. Noch zuvor hatte er sich in den Niederlanden an der
Erschießung von etwa 70 sowjetischen Kriegsgefangenen im KZ Amersfoort
und an Misshandlungen im KZ Vught beteiligt.
In Folge einer Strafanzeige Tithos wegen "übler
Nachrede u.a." wurden am 6.4.2001 drei Detmolder Privatwohnungen und das
Autonome Kultur- und Kommunikations- zentrum "alte Pauline" von Beamten
des Bielefelder Staatsschutzes und der Einsatz- hundertschaft Bielefeld
durchsucht. Dabei wurden Computer, Datenträger, Vereins- unterlagen der
K.I.D. e.V. und Flugblätter beschlagnahmt. Solch ein hartes Vorgehen ist
bei dem betreffenden Vorwurf, der meist lediglich eine Unterlassungs-
aufforderung nach sich zieht, mehr als unüblich. Zudem ist unklar,
weshalb die bereits im August 2000 von den Richterinnen Block-Gerdelmann
und Hempel am Detmolder Amtsgericht genehmigten Durchsuchungen erst rund
acht Monate später durchgeführt wurden. Wir vermuten, dass
Staatsanwaltschaft oder Staatsschutz im vergangenen Jahr aufgrund der
allgemeinen Empörung über rechtsextremistische Gewalttaten ("Aufstand
der Anständigen") eine zu große öffentliche Ablehnung einer Aktion
befürchteten, die sich eindeutig gegen aktive Antifaschisten und ihre
Arbeit richtet.
Die konkreten Äußerungen, welche den Beschuldigungen
Tithos und seines Rechtsanwaltes Arnd Kuhlmann zugrunde liegen, wurden
bislang noch nicht genau benannt. Es war in diesem Zusammenhang
lediglich von einem im Internet (auf einer Web-Seite, die in keinem
Zusammenhang mit der "alten Pauline" oder einer der unterzeichnenden
Gruppen steht) veröffentlichten Text die Rede, in dem Herrn Kuhlmann
eine Mitgliedschaft in der SS-Leibstandarte Adolf Hitler unterstellt
wird. Dabei legen wir besonderen Wert auf die Feststellung, dass wir in
keiner Weise an der Erstellung oder Publikation dieses Textes beteiligt
waren und sind und dass derartige Behauptungen zu keiner Zeit im
Internetangebot der "alten Pauline" (http://www.alte-pauline.de) zu
finden waren oder sonst wie von uns verbreitet wurden. Daran ändert sich
natürlich auch dadurch nichts, dass der Verfasser jenes Textes die
E-Mail-Adresse und Telefonnummer der "alten Pauline" als Bezugsquelle
für weitere Informationen angegeben hat.
Obwohl es offensichtlich ist, dass keine der
beschuldigten Personen und Organisationen inhaltliche oder
publizistische Verantwortung für den genannten Text trägt, war er
offenbar dennoch ausschlaggebend für die Hausdurchsuchungen. Deren
rechtliche Grundlage sehen wir daher als nicht gegeben an. Darin und in
der Tatsache, dass ein bekannter NS-Verbrecher sich mit Hilfe der
deutschen Justiz als Opfer gebärden und die Aufklärungsarbeit von
Antifaschisten kriminalisieren kann, sehen wir einen Skandal ersten
Ranges. Anstatt dies auf den Punkt zu bringen und die Motivation von
Justiz und Staatsschutz zu hinterfragen, nimmt die lokale Presse diesen
Fall vielmehr zum Anlass, um in den deutschen Kanon der Versöhnlichkeit
einzufallen.
So ist es Titho möglich, seinen Opfern ungefragt
großzügig Versöhnung anzubieten, ohne für seine Taten Reue zu bekunden.
Gleichwohl es für eine nachträgliche Entschuldigung ohnehin zu spät ist
- Tote könnten nicht einmal mehr vergeben, wenn sie es denn wollten -
ist Titho noch nicht einmal zum bloßen Eingeständnis seiner Schuld
bereit. Stattdessen verhöhnt er seine Opfer: "Wenn Lagerleitung Schuld
ist, dann wäre das (eine Entschuldigung; Anm. d. Verf.) angebracht"
(Lippische Landeszeitung vom 9. 4. 2001) schreibt der Mann, der Tausende
unschuldiger Menschen, darunter unzählige Frauen und Kinder, in die
Vernichtungs- lager geschickt hat. Nach Aussage Kuhlmanns in der
Lippischen Rundschau vom 10. 4. 2001 hatte sein Mandant "dazu ... gar
nicht die Kompetenz". Dieser Argumentation zufolge hatten die Nazis auch
keine "Kompetenz" zur Vernichtung von sechs Millionen Juden gehabt.
`Wer ist hier der Verbrecher?', könnte und sollte die
zu stellende Frage lauten. Titho selbst, sein Verteidiger und die lokale
Presse weisen immer wieder darauf hin, dass er niemals in Deutschland
verurteilt worden sei, drei Verfahren sogar eingestellt worden seien.
Diese Tatsache macht den Skandal, den die Angelegenheit darstellt, nur
ausdrücklicher. Ein ranghoher Nazi, der in den Nieder- landen für die
Beteiligung an den Erschießungen russischer Kriegsgefangener und
Folterungen niederländischer Häftlinge 1951 rechtskräftig zu sieben
Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde (seit seiner Abschiebung nach
Deutschland 1953
hierzulande aber - unbehelligt von der deutschen Justiz - auf freiem Fuß
ist), kann jegliche Verantwortung für die Folgen seiner
Verantwortlichkeit als Lager- kommandant in Fossoli von sich weisen,
solange ihm nicht individuelle Beteiligungen an Erschießungen (in
Fossoli) oder Grausamkeiten nachgewiesen werden können.
Dieses Vorgehen hat in Deutschland Programm. Von den
1.296 allein bei der Dortmunder `Zentralstelle im Lande
Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen
Massenverbrechen' anhängigen Verfahren kam es in gerade einmal 55 Fällen
überhaupt zu einer Verurteilung; das heißt auch, dass von einstmals
24.275 beschuldigten Personen nur 158 jemals verurteilt wurden. Zu den
hierzulande niemals Belangten gehört auch Carl-Friedrich Titho. Zwar
hält die Dortmunder Zentralstelle die Behauptung Tithos, er habe nicht
gewusst, dass die aus Italien deportierten Juden in Vernichtungslagern
getötet werden sollten und wurden, für "in hohem Maße unglaubhaft".
Es könne des weiteren aber "nicht unberücksichtigt
bleiben, dass ... das nahende Kriegsende es für den Beschuldigten
möglich erscheinen lassen konnte, dass die aus Italien deportierten
Juden nicht mehr getötet würden" (Rondolz, Eberhard, Dortmund zum
Beispiel - eine deutsche Zentralstelle für die Bearbeitung
nationalsozialistischer Massenverbrechen, in: Blätter für deutsche und
internationale Politik, November 1996; siehe auch Poliakov, Léon &
Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener, Frankfurt a.M. etc.
1983, S. 246). Im Gegensatz zu dieser Argumentation verstärkten die
Nazis aber gerade, als die militärische Niederlage abzusehen war, ihre
Anstrengungen bei der Ermordung der Juden und Sinti und Roma, um noch
rechtzeitig die "Endlösung der Judenfrage" zu erreichen.
Entgegen ausweichender Behauptungen des
Ober(!)staatsanwalts Diethard Höbrink handelt es sich für uns bei den
Durchsuchungen um den Versuch der Ein- schüchterung von Antifaschisten.
In Fällen mit vermutetem Tatbestand der Beleidigung oder Verleumdung
sind weder Hausdurchsuchungen noch ein Einschalten des Staatsschutzes
üblich. Die Behauptung Höbrinks, der Staatsschutz sei "...wegen der
NS-Vergangenheit Tithos ... " (Lippische Landeszeitung vom 10. 4. 2001)
eingeschaltet worden, halten wir für fadenscheinig.
Carl-Friedrich Titho ist ein NS-Verbrecher, dessen
Mitwirken an der Vernichtung der
europäischen Juden ebenso unbestreitbar wie ungesühnt ist und dem es von
der deutschen Justiz denkbar leicht gemacht wurde, sich seiner
Verantwortung zu entziehen, während sich die Öffentlichkeit in seinem
Heimatstädtchen keinen Deut für seine Schuld interessiert. Dass dieser
Mann seinen Lebensabend ruhig verbringen und ungestört von jeder
Konfrontation mit seinen Verbrechen genießen kann, scheint für die
Staatsanwaltschaft und den Staatsschutz ein Anliegen von besonderer
Bedeutung zu sein. Wichtig genug jedenfalls, um eine (unserer
Einschätzung nach) von Anfang an rechtlich haltlose Anzeige zum Anlass
zu nehmen, die Aufklärungsarbeit von Antifaschisten massiv zu behindern
und zu kriminalisieren.
Bei Nachfragen oder Interesse an weiterführendem
Material
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Fax: 05231-20101
V.i.S.d.P.: Kulturinitiative Detmold e.V.;
Georg-Weerth-Gesellschaft e.V. Josef-Mohren-Fraktion
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12.04.2001 |