Wirtschaft geht stiften
Kanzler Schröder an der Seite der Industrie: Obwohl immer mehr
Zwangsarbeiter sterben, wird es ohne Rechtssicherheit vorerst keine
Auszahlung geben. Opferverbände reagieren mit Empörung
BERLIN taz - Die erneute Verzögerung der
Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern stößt zunehmend auf Unverständnis.
"Absolute Rechtssicherheit kann es bei unabhängigen Gerichten nicht
geben. Der Bundestag muss deshalb sofort die Rechtssicherheit
feststellen", sagte Unionspolitiker Michel Friedman gestern der taz.
Kanzler Gerhard Schröder und Vertreter der
Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft hatten sich bei
einemKrisentreffen Mittwochabend im Kanzleramt darauf geeinigt, dass für
Rechtssicherheit zunächst alle in den USA anhängigen Klagen abgewiesen
sein müssten. Damit hat sich der Kanzler die Rechtsposition der
Wirtschaft zu Eigen gemacht. Die Stiftungsinitiative verweist darauf,
dass noch zwölf Verfahren anhängig sind.
Lothar Evers vom Bundesverband der NS-Verfolgten
fordert, die Zwangsarbeiter-Entschädigung von der jetzt noch anhängigen
Bankenklage vor einem New Yorker Gericht zu entkoppeln. Es stünde dem
Bundestag gut an, so Evers, "Rechtssicherheit für das große Geld
festzustellen". Der Zentralrat der Juden in Deutschland forderte die
Wirtschaft auf, trotz möglicher Klagen "in Vorleistung" zu gehen.
Grünen-Fraktionschefin Kerstin Müller kritisierte
gegenüber der taz die "Maximalforderungen der Wirtschaft". Bei den
Gesprächen im Kanzleramt sei man nicht sehr weit gekommen. "Unser Ziel
ist es, spätestens im Sommer mit den Auszahlungen zu beginnen", so
Müller. Ähnlich äußerte sich PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke: "Vor der
Sommerpause muss so oder so die Entscheidung im Bundestag gefallen
sein." In einer aktuellen Stunde des Bundestages sagte dagegen gestern
der Regierungsbeauftragte für die Entschädigung, Otto Graf Lambsdorff,
er könne nicht sagen, wann er dem Bundestag vorschlagen werde,
Rechtssicherheit festzustellen.
Bislang waren Politiker aller Fraktionen davon
ausgegangen, dass der Bundestag mit der Abweisung der letzten
Sammelklage die Rechtssicherheit feststellen könne - laut
Stiftungsgesetz Voraussetzung für den Beginn der Auszahlungen. Die New
Yorker Richterin Shirley Kram hatte die Klage jedoch nicht
zurückgewiesen, weil die Wirtschaft ihren Beitrag nicht bereitgestellt
hatte. Nachdem die deutsche Wirtschaft jetzt ihren Anteil garantiert
hat, wollen die Opferanwälte heute in New York die Abweisung der
Sammelklagen gegen deutsche Banken beantragen. Politiker aller Parteien,
darunter Grünen-Rechtsexperte Volker Beck, fordern die
Stiftungsinitiative unterdessen auf, ihren Anteil tatsächlich an die
Stiftung zu überweisen. Dies sei eine Voraussetzung, um anhängige Klagen
abweisen zu können.
Auch die US-Regierung könnte bald unter politischen
Druck geraten. Noch heute bunkern die USA Gold, Geld und Wertgegenstände
ermordeter europäischer Juden in Milliardenhöhe. Der Bericht einer
Kommission des US-Kongresses zeigt, wie sich die USA am jüdischen
Vermögen bereichert haben.
NM/JH/SF
schwerpunkt SEITE 4
taz Nr. 6398 vom 16.3.2001, Seite 1, 84
Zeilen TAZ-Bericht NM/JH/SF
ENTSCHÄDIGUNG FÜR NS-ZWANGSARBEITER IST IMAGEPFLEGE
Billig davongekommen
Soll man sich freuen? Es fällt schwer. Zwar
bekommen die Zwangsarbeiter jetzt endlich, endlich doch ihr Geld. Aber
immer noch aus dem falschen Grund. Sie werden nicht entschädigt, weil
die deutschen Firmen eingesehen hätten, dass sie moralisch verpflichtet
sind, NS-Unrecht ein wenig zu lindern. Nein, ein paar deutsche
Großunternehmen haben ihren Anteil erhöht und eine Ausfallbürgschaft
übernommen, weil sie ihre guten Markennamen retten wollten.
Und nicht nur das Image ihrer eigenen Firmen war in
Gefahr - sondern auch eine Marke namens "Deutschland". Dass der
Starrsinn der Unternehmer außenpolitischen Großschaden anrichtet - das
dürfte Schröder den 17 Topmanagern in diversen Gesprächen und zuletzt im
Kanzleramt klar gesagt haben. Doch keine Panik, Kanzler. Man kann nur
konstatieren: Operation gelungen. Das Image der Deutschland AG ist
aufpoliert. "Mit Erleichterung" wurde die neue Freigebigkeit allerorten
aufgenommen. Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden,
"begrüßte" die Umkehr, der Grüne Volker Beck urteilte: "ein
entscheidener Schritt nach vorn". Und der tschechische
Regierungsbeauftragte Jirí Sitler sprach von einer "guten Nachricht".
Zwar wird noch um die Auslegung der leidigen
"Rechtssicherheit" gerungen. Aber dies kann der deutschen Wirtschaft
kaum noch schaden, hat sie doch ihren guten Willen dokumentiert. Ganz im
Gegenteil: Der Streit um die Rechtssicherheit wird den Unternehmen sogar
nutzen - jetzt, da ihre Zahlungsmoral nicht mehr bezweifelt wird. Denn
wo so leidenschaftlich gekämpft wird, muss sich allseits der Eindruck
einstellen, dass es wohl irgendwie um ganz, ganz viel Geld geht. Anders
wäre die Aufregung ja gar nicht erklärlich. Es handelt sich aber nicht
um eine gigantische Summe - sondern um magere 2,5 Milliarden Mark netto.
Dahin schrumpft der Bruttobeitrag der Unternehmen von 5 Milliarden Mark,
wenn man die Anrechnungsmöglichkeiten bei der Steuer berücksichtigt.
2,5 Milliarden sind aber nicht nur lächerlich wenig
angesichts des NS-Unrechts, für das es zu entschädigen gilt - es ist
auch eine absurd geringe Summe, wenn man sich andere Zahlen
vergegenwärtigt. Nehmen wir nur die Versteigerung der UMTS-Lizenzen. Da
ist es ganzen sechs (!) Unternehmen gelungen, knapp 100 Milliarden Mark
zu mobilisieren. Und zwar aus dem Stand.
Markennamen sind heutzutage teuer, die Werbung
verschlingt Unsummen. Mit den 2,5 Milliarden Mark für die Zwangsarbeiter
ist die deutsche Wirtschaft wirklich billig davongekommen.
ULRIKE HERRMANN
taz Nr. 6397 vom 15.3.2001, Seite 11, 56
Zeilen Kommentar ULRIKE HERRMANN
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