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"Bei uns waren sie immer
dagegen"
Wie im Familiengespräch aus
Zuschauern und Tätern
Helden des alltäglichen Widerstandes wurden
Von Harald Welzer
Der Nationalsozialismus und
seine Verbrechen werden am deutschen Familientisch immer noch
ausgeblendet: Die jüdischen Mitbürger sind nach 1933 einfach
verschwunden, Großmutter und Großvater waren eigentlich alltägliche
Widerstandskämpfer. Harald Welzer, Professor für Sozialpsychologie am
Psychologischen Institut der Universität Hannover, ist Leiter des
Forschungsprojekts "Tradierung von Geschichtsbewusstsein" und befragte
Familien, deren Namen im folgenden Text verändert wurden. Für die FR
fasst Welzer die Forschungsergebnisse zusammen.
Als ich vor einigen Jahren
Lehrveranstaltungen zur Psychologie von NS-Tätern durchführte, befanden
sich einige Seniorenstudenten unter den Teilnehmern. Mir fiel auf, dass
diese zwar sehr viel und durchaus Kritisches über das "Dritte Reich" zu
sagen wussten, aber regelmäßig leuchtende Augen bekamen und ganz
aufgeregt wurden, wenn sie über ihre eigenen Erfahrungen in der HJ oder
bei der Luftwaffe berichteten. Damals entstand der Gedanke, dass es
einen beträchtlichen Unterschied zwischen emotional bedeutsamen
historischen Erfahrungen und kognitiv angeeignetem Wissen über die
Geschichte gibt, und dass dieser Unterschied auch folgenreich für die
Weitergabe des Vergangenen ist: dass also zum Beispiel in Familien
andere Bilder und Vorstellungen von der nationalsozialistischen
Vergangenheit vermittelt werden als in der Schule oder in den Medien.
Die von der Volkswagenstiftung
geförderte Mehrgenerationenstudie "Tradierung von Geschichtsbewusstsein"
ist also der Frage nachgegangen, was "ganz normale" Deutsche aus der
NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon auf
dem Wege kommunikativer Tradierung an die Kinder- und Enkelgenerationen
weitergegeben wird. In 40 Familiengesprächen und 142 Interviews wurden
die Familienangehörigen sowohl einzeln als auch gemeinsam nach erlebten
und überlieferten Geschichten aus der nationalsozialistischen
Vergangenheit gefragt.
In diesen Gesprächen werden
insgesamt 2535 Geschichten erzählt. Nicht wenige davon verändern sich
auf ihrem Weg von Generation zu Generation so, dass aus Antisemiten
Widerstandskämpfer und aus Gestapo-Beamten Judenbeschützer werden. In
den Gesprächen finden sich zwei Beispiele, in denen die Zeitzeugen im
Familiengespräch von Morden erzählen, die sie begangen haben, und es
finden sich Berichte von Erschießungen, aber all das hinterlässt in den
Einzelinterviews mit den Kindern und Enkeln keinerlei Spuren - es ist,
als hätten sie diese Erzählungen gar nicht gehört. Wohl aber nutzen sie
jeden auch noch so entlegenen Hinweis darauf, dass ihre Großeltern etwas
"Gutes" getan haben, um Versionen der Vergangenheit zu erfinden, in
denen diese stets als integre, gute Menschen auftreten. Ich nenne den
Vorgang, in dem aus antisemitischen Großeltern und Eltern in den Augen
ihrer Kinder und Enkel Widerstandskämpfer werden, "kumulative
Heroisierung", und solche "kumulativen Heroisierungen" kommen in 26 der
40 befragten Familien vor, also in knapp zwei Dritteln aller Fälle.
Heroisierungsgeschichten machen etwa 15 % aller erzählten Geschichten in
den Interviews und Familiengesprächen aus, zusammen mit den
Opfergeschichten, die ca. 50 % ausmachen, handeln also zwei Drittel
aller erzählten Geschichten davon, dass die Familienangehörigen aus der
Zeitzeugengeneration und ihre Verwandten entweder Opfer der
NS-Vergangenheit und/oder Helden des alltäglichen Widerstands waren.
Geschichten und Episoden des
"Dagegenseins" sind in der Sicht der Enkel eingebettet in die
Vorstellung, dass jegliches nonkonformes Verhalten, vom "Mund aufmachen"
bis zum "Juden decken", vom fortgesetzten "beim Juden kaufen" bis zum
Widerstand gegen Vorgesetzte und "150-prozentige" Nazis, immer schärfste
Konsequenzen nach sich zog. Das heißt, die in der Perspektive ihrer
Nachkommen couragiert handelnden Großeltern befanden sich selbst dauernd
in Gefahr, auf Grund ihrer Einstellung und ihres Verhaltens berufliche
Nachteile, Konflikte, Konzentrationslagerhaft oder gar Todesurteile in
Kauf nehmen zu müssen. So überlegt der 17-jährige Enkel der Familie
Groothe: "Ich glaub auf jeden Fall, dass die meisten Leute trotzdem noch
gedacht haben, dass zum Beispiel Juden oder so was Menschen sind und so.
Aber als Einzelner konnte man sich ja nicht wehren. Als Einzelner konnte
man ja nichts machen. Man konnte sagen: Ich finde das schlecht. Dann
wurde man eingesperrt und wahrscheinlich danach erschossen."
Diese Einschätzung ist selbst
schon Produkt einer Generationen übergreifenden Tradierungskette. Auch
die Zeitzeugen zeichnen in unseren Gesprächen ihre Eltern als Personen,
die "dagegen" waren. Das kann so weit gehen, dass selbst ein "alter
Kämpfer" und "überzeugter Nationalsozialist", der schon 1931
Ortsgruppenleiter der NSDAP war, als jemand dargestellt wird, der sich
stets gegen "die Nazis" einsetzte und zum Beispiel weiterhin "bei Juden"
einkaufte, mit dem "jüdischen Viehhändler Geschäfte machte" und
schließlich, nach der Auffassung seines Urenkels, Juden "gedeckt" hat.
Viele Geschichten werden auf
ihrem Weg durch die Generationen so verändert, dass sie am Ende einen
ganz neuen Plot bekommen. Hierzu einige Beispiele: Im Gespräch mit der
Familie Renz erzählt der Großvater, Josef Renz, von seinem Kriegseinsatz
im Osten. Seine Einheit operierte, wie man an den Orten ablesen kann, an
denen er gewesen ist, an allen wichtigen Stationen des
Vernichtungskrieges, und Herr Renz erzählt auch von Erschießungen, auf
die ihn jemand aufmerksam gemacht habe: "Komm her, komm her, da hinten,
da werden welche erschossen, wollen wir mal hingehen." Josef Renz
erzählt weiter, es habe sich bei den Opfern wohl um Partisanen
gehandelt, die auch Kameraden von ihm ermordet hätten und überlegt dann:
"Wenn ich nun kommandiert worden wäre, das hätte möglich sein können, da
hab ich mir manchmal überlegt, was machst du?"
Bemerkenswert an dieser Erzählung
ist, dass keiner der Zuhörer nachfragt, wie und warum Herr Renz Zeuge
von Erschießungen werden konnte, welche Aufgaben seine Einheit hatte
usw. Noch interessanter ist, dass noch nicht einmal die Einleitung der
Geschichte ("da werden welche erschossen, wollen wir mal hingehen") in
irgendeiner Weise als problematisch erscheint. Die Zuhörer interessieren
sich im weiteren Verlauf lediglich für die moralische Frage, die Herr
Renz am Ende aufgeworfen hatte: Hätte er geschossen, wenn es ihm
befohlen worden wäre?
Genau dieses Problem beschäftigt
später im Einzelinterview auch die Tochter Vera Jung: "Was würdest Du
tun, wenn Du angegriffen wirst? Würdest Du Dich wehren oder würdest Du
dastehen und sagen: ‚Ja, ich schieße nicht, weil . . .' Und da haben
mein Vater und ich oft drüber gesprochen, aber das ist nie zu einem
Ergebnis gekommen, was man wirklich machen würde."
Hier ist von der
Ausgangssituation, in der die Erschießungsszene beschrieben wird, nichts
mehr übriggeblieben. Erhalten hat sich lediglich das moralische Dilemma,
aber auch das hat sich gewandelt. Es geht nun nicht mehr um die Frage:
Erschießung auf Befehl oder Verweigerung, sondern um die moralisch ganz
anders gelagerte Frage, ob man sich nach einem Angriff wehren darf oder
nicht. Vera Jung hat mit dieser Umformatierung der Fragestellung jeden
Konflikt und jeden Verdacht, der in der ursprünglichen Erzählung lag,
systematisch beseitigt und die Problematik auf eine höchst allgemeine
Ebene verschoben. Es geht nun keineswegs um die Frage, "hat er oder hat
er nicht?", und auch nicht mehr, wie noch im Familiengespräch, um die
Frage, "hätte er oder hätte er nicht?", sondern lediglich noch um das
Verhalten in einer Notwehrsituation - und Notwehr lag ja bei der
Erschießung, über die Josef Renz erzählt hatte, nun ganz bestimmt nicht
vor.
Verschiebt Vera Jung das Problem
des moralischen Dilemmas auf eine Ebene, die nichts mehr mit einer
Erschießung, sondern nur noch mit der Frage des Schießens in Notwehr zu
tun hat, bekommt die ursprüngliche Geschichte im Interview mit dem Enkel
Ulrich Jung eine wiederum veränderte, nun aber ganz entschiedene
Gestalt: "Dass Opa halt nie auf Leute schießen musste und dass er das
auch nicht gemacht hätte."
Hier ist das Verhalten des
Großvaters im Krieg eindeutig geworden: Ganz zweifellos, so sieht es der
Enkel, musste sein Großvater "nie auf Leute schießen", und wenn er
gemusst hätte, hätte er es ebenso zweifellos nicht getan. Josef Renz
steht in der Sicht seines Enkelkindes besser da als in seiner eigenen,
und vor dem Hintergrund des stilisierten Dilemmas "schießen oder nicht
schießen" bleibt das Skandalöse der geschilderten Handlung, mal
hinzugehen und zuzuschauen, wie Menschen erschossen werden, gänzlich
unproblematisch. In den Folgeinterviews wird es an keiner Stelle
erwähnt.
Ein anderer Fall: Frau Jannowitz,
Jahrgang 1927, erzählt: "Dann kam der Krieg. Und mein einschneidendes
Erlebnis war das Verschwinden einer jüdischen Familie, die mit meinen
Eltern befreundet war, die dann 1939 sozusagen im letzten Moment ins
Ausland gingen. Und auch mit Hilfe von meinen Eltern." Gegen Ende des
Gesprächs kommt die Interviewerin noch einmal auf diese Geschichte
zurück und fragt, worin denn die Hilfe der Eltern konkret bestanden
habe. Frau Jannowitz erzählt: "Also, sie konnten ganz regulär ausreisen.
Und das ist eben das, wobei wir ihnen helfen konnten, mit den
notwendigen Papieren. Der Bruder meiner Mutter war ein
Verwaltungsmensch. Und irgendwie ist er in den Verwaltungsapparat der
Gestapo geraten, obwohl meine Mutter immer versucht hat, ihn davon
abzubringen. Aber es ist ihr nicht gelungen. Der war im Grunde genommen
kein Nazi, aber natürlich ist er in die Partei eingetreten, ich glaube,
es ging einfach um finanzielle Geschichten. Er hat dort einfach
wahrscheinlich gut verdienen können. Jedenfalls weiß ich, dass er in der
Stelle saß, wo eben auch diese Anträge auf Ausreise von den Juden
landeten. Und auf diese Weise hat er mitgeholfen, dass die ausreisen
konnten und sogar ihren Hausrat und alles mitnehmen konnten."
Auch wenn es vor dem Hintergrund
solcher "Beziehungen" zu der Behörde (vermutlich der Berliner
Reichszentrale für jüdische Auswanderung), in dem der Onkel von Frau
Jannowitz gearbeitet hat, nicht unwahrscheinlich ist, dass die Familie
Jannowitz einer "befreundeten" jüdischen Familie bei den
Ausreiseformalitäten geholfen hat, bleibt doch auffällig, dass der
Kontext der Handlung für die Erzählerin völlig unproblematisch ist. Zwar
hält sie es für notwendig, zu erklären, warum ihr Onkel bei der Gestapo
war, zumal er ja "im Grunde genommen kein Nazi" war, aber im Zentrum
ihrer Erzählung steht die Unterstützung, die ihre Familie mit Hilfe
dieses Gestapo-Beamten für die jüdische Familie leistet. Bemerkenswert
ist hier, wie in vielen analogen Geschichten, dass der Rahmen der
geschilderten Handlungen genauso wenig als problematisch empfunden wird,
wie die Funktion, in der die einzelnen Akteure auftreten: Die Verfolgung
und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ist in diesen Erzählungen
einfach ein Tatbestand, der weder weiter erklärungsbedürftig noch
irgendwie problematisch ist. Wichtig ist den Erzählern allein,
hervorheben zu können, dass sie selbst oder eben Personen, die ihnen
nahe standen, innerhalb dieses gegebenen Rahmens hilfsbereit und
engagiert gehandelt haben.
Die Bedeutung solcher Geschichten
für die Tradierung der Vergangenheit erschließt sich unmittelbar, wenn
der 1955 geborene Matthias Jannowitz im Einzelinterview zu dem Schluss
kommt, "dass es natürlich kompliziert ist. Weil es gab ja
Widerstandsgeschichten bis in die Gestapo rein. Und das ist natürlich
auch das Problem, wenn man also in Diktaturen sich bewegt, dass das dann
mitunter nötig ist, also so Doppelstrategien zu fahren."
Wir haben es hier mit einer
vollständig zirkulären Argumentation zu tun: Ein Familienangehöriger ist
selbst dann kein "Nazi", wenn er bei der Gestapo die "Ausreise" von
Juden betreibt. Im Gegenteil nutzt er aus der Sicht seiner Nichte seine
Position, um zu helfen. Deren Sohn nun generalisiert das Beispiel seines
Onkels zu dem allgemeinen Befund, dass es in totalitären Systemen
gelegentlich notwendig sein kann, scheinbar mitzutun, um Widerstand
leisten zu können - womit Frau Jannowitz' Onkel in der Sicht seines
Großneffen nicht mehr nur ein hilfsbereiter Gestapo-Beamter ist, wie in
der Optik der Zeitzeugin, sondern jemand, der Widerstand leistet, indem
er Gestapo-Beamter wird.
Diese Heroisierungstendenz bildet
sich in vielen Umdichtungen ab, die die von den Großeltern erzählten
Geschichten auf ihrem Weg durch die Generationen durchlaufen. Die
vielleicht spektakulärste liefert die Familie Krug, in der die
92-jährige Großmutter erzählt, wie sie es mit List vermeiden konnte,
dass nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen ehemalige jüdische
Häftlinge bei ihr einquartiert wurden - weil sie diese, wie sie sagt,
"widerlich" fand: "Die Juden waren die Schlimmsten, die haben uns
richtig schikaniert!" In der Nacherzählung durch ihre 26-jährige Enkelin
Silvia wird daraus eine abenteuerliche Geschichte, die darin gipfelt,
dass ihre Oma unter Einsatz ihres eigenen Lebens noch in der NS-Zeit
einen entflohenen jüdischen Häftling bei sich versteckt hat: ". . . hat
die den dann echt versteckt. Und es kamen halt auch Leute und haben den
gesucht bei ihr auf 'm Hof und sie hat da echt dicht gehalten, und das,
find' ich, ist so 'ne kleine Tat, die ich ihr echt total gut anrechne."
Kumulative Heroisierungen
vollziehen sich oft verblüffend schnell und umstandslos, und dabei
werden, wie im Fall von Silvia Hoffmann, die eigentlich problematischen
Aspekte der Erzählungen weggestrichen und neue Plots arrangiert, die das
facettenreiche und ambivalente, oft fragwürdige Erzählmaterial der
ursprünglichen Geschichten auf moralisch eindeutige Handlungen der
Großeltern reduzieren - und zwar auf eindeutig positive.
Aber woraus resultiert dieses
Bedürfnis besonders der Enkel, ihre Großeltern zu Helden des
alltäglichen Widerstands zu machen? Solche Nachdichtungen gehörter
Geschichten werden gerade deswegen vorgenommen, weil die Angehörigen der
Kinder- und Enkelgeneration in den Interviews keinerlei Zweifel daran
erkennen lassen, dass der Nationalsozialismus ein verbrecherisches
System und der Holocaust ein maßstabsloses Verbrechen gewesen ist. Diese
durch den Geschichtsunterricht, die Medien und die offizielle
Gedenkkultur standardisierte Bewertung der NS-Vergangenheit bricht sich
nicht nur an der aus ihr folgenden Frage, welche Rolle denn die eigenen
Großeltern in dieser Zeit gespielt haben, sie ruft geradezu das
subjektive Bedürfnis hervor, dem eigenen Großvater oder der Großmutter
jeweils die Rolle der anderen, der guten Deutschen im
nationalsozialistischen Alltag zuzuweisen. Das gilt gerade für die gut
informierten Angehörigen der Enkelgeneration, von denen einer sagt:
"Dass mein Großvater an diesen Dingen beteiligt gewesen sein soll, das
übersteigt meine Vorstellungskraft."
Und hier zeigt sich eine paradoxe
Folge der gelungenen Aufklärung über die nationalsozialistische
Vergangenheit: Je umfassender das Wissen über Kriegsverbrechen,
Verfolgung und Vernichtung ist, desto stärker fordern die familialen
Loyalitätsverpflichtungen, Geschichten zu entwickeln, die beides zu
vereinbaren erlauben - die Verbrechen "der Nazis" oder "der Deutschen"
und die moralische Integrität der Eltern oder Großeltern. Diese doppelte
Funktion nun können nur solche Geschichten erfüllen, die die Angehörigen
als Menschen zeichnen, die sich zwar vorsichtig, aber couragiert über
die zeitgenössischen Normen hinweggesetzt und die in ihrem praktischen
Verhalten gegen das System gehandelt haben, auch wenn sie nach
Parteizugehörigkeit und Funktion alles andere als Gegner des Systems
waren.
Welche Schlüsse lassen sich aus
diesen Ergebnissen ziehen? Zunächst einmal der, dass der Ruf nach mehr
Aufklärung nicht der Schlüssel für die Lösung des Problems des
Rechtsextremismus ist. Eine politische Haltung zu haben, ist nicht
deckungsgleich mit Wissen über Geschichte, sondern hat viel mehr mit
Gefühlen, Ängsten, Gerechtigkeitsvorstellungen, Normen etc. zu tun, wie
sie in den verschiedenen sozialen Umfeldern und besonders natürlich in
der Familie vermittelt werden. Das familiale Gespräch stellt zwar nicht
das gesamte Wissen über die nationalsozialistische Vergangenheit bereit,
bildet aber den Rahmen, in dem das in der Schule und über die Medien
vermittelte Wissen gedeutet wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich
sagen, dass die Aufklärung über das "Dritte Reich" und über den
Holocaust an eine kritische Grenze gekommen ist - mehr Information ist
nicht nötig und erzeugt möglicherweise sogar kontraproduktive Effekte.
Im Gegenteil sollte sensibler
darauf geachtet werden, welche Wirkung das massierte Angebot an
Informationen bei den Jugendlichen erzeugt - wenn zum Beispiel ein
21-Jähriger im Interview erzählt, weshalb er gern
Geschichtsdokumentationen zum "Dritten Reich" anschaut: ". . . wie die
die Menschen begeistert haben! Das war doch klasse, wie die das
geschafft haben. Wie sie alle geschrieen haben ‚Heil Hitler' und ‚Sieg
Heil'! Und diese Begeisterung der Menschen macht irgendwie das
Faszinierende, wie stark dann dieses Volk war. Denn die haben ja alle
Angst vor uns gehabt."
Rechtsextreme Jugendliche können
die Informationsflut durchaus auf ihre Weise als Handlungsanleitungen
interpretieren und den Besuch in KZ-Gedenkstätten als
Anschauungsunterricht dafür begreifen, wie ihrer Ansicht nach mit
Andersdenkenden und Andersaussehenden zu verfahren ist. Volkhard Knigge,
der Leiter der Gedenkstelle Buchenwald, hat mit Recht konstatiert, dass
die Gedenkstättenpädagogik in erster Linie die ungefährdeten
Jugendlichen erreicht, vielleicht noch die Schwankenden, keinesfalls
aber die, die schon eine rechtsextreme Orientierung haben.
Die Attraktivität und
Zweifellosigkeit der Vergangenheitsvermittlung in der Familie liegt im
Übrigen darin, dass Geschichte hier beiläufig und absichtslos vermittelt
wird - in Familien werden ja keine Geschichtsstunden abgehalten, sondern
es werden aus ganz verschiedenen Anlässen Geschichten erzählt, die auch
die Vergangenheit zum Gegenstand haben: wie die Großeltern sich im Krieg
kennen gelernt haben, wie der Großvater, obwohl er nicht reich war, an
das schöne Haus gekommen ist, wie er in seiner Funktion als
Ortsgruppenleiter der NSDAP "helfen konnte" usw.
In dieser Beiläufigkeit liegt
etwas Zwingendes: Die Bilder und Vorstellungen, die dabei transportiert
werden, erzeugen Gewissheiten, nicht Wissen, und Gewissheiten sind
Kritik gegenüber viel resistenter als ein Wissen, das eben auch
hinterfragt und korrigiert werden kann. Zudem sind die Geschichten, die
in Familien erzählt werden, uneindeutig. Oft ist gar nicht klar, wo und
wann sich das Berichtete zugetragen hat und wer welche Rolle gespielt
hat. Diese Nebelhaftigkeit der Geschichten eröffnet den Zuhörern die
Möglichkeit, sie mit eigenen Bildern und Vorstellungen anzufüllen und
sich die Geschichten anzueignen. Dass dabei ein Bild entsteht, in dem
"die Nazis" immer die anderen waren und der Nationalsozialismus in den
Familien ganz nach dem ideologischen Bild der verführten Deutschen
gezeichnet wird, die das alles nicht gewollt hatten und geholfen haben,
wo sie konnten, ist die eine, höchst problematische Seite der
kumulativen Heroisierung. Die andere ist etwas positiver, denn wenn man
die eigenen Großeltern selbst dann als alltägliche Helden und
Widerstandskämpfer ansieht, wenn sie in Wirklichkeit das genaue
Gegenteil waren, können sie ja für die Enkel als Vorbilder wirken, sich
selbst in Situationen, in denen Zivilcourage erforderlich ist, engagiert
und mutig zu verhalten.
Wenn dagegen im
Geschichtsunterricht und in den allgegenwärtigen Features im Fernsehen
scheinbar eindeutige Bilder vermittelt werden, in denen immer schon klar
ist, wer die Guten und wer die Bösen sind, wird zugleich eine
Monumentalität des Grauens vermittelt, das gar keine Möglichkeit für
individuelles Handeln mehr zu beinhalten scheint. Vor diesem Hintergrund
wird es bei der Entwicklung von geschichtspädagogischen Konzepten in
Zukunft nicht einfach um ein Mehr an Information gehen müssen, sondern
um ein Mehr an Facetten des historischen Alltags, um
Handlungsmöglichkeiten, darum, dass Opfer nicht immer und ausschließlich
Opfer, sondern auch handelnde Personen sind.
Daneben weisen unsere
Untersuchungsergebnisse auch auf einen ganz praktischen Aspekt: dass es
nämlich unsinnig ist, nur auf die Jugendlichen zu schauen, wenn es um
jugendlichen Rechtsextremismus geht.
Bevor man neue oder einfach nur
mehr pädagogische Konzepte entwickelt, sollte man genauer die sozialen
Umfelder studieren, in denen rechte Jugendliche operieren, und das sind
eben nicht zuletzt ihre Familien.
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Frankfurter Rundschau 2001
Dokument erstellt am 05.01.2001 um 21:06:13 Uhr
Erscheinungsdatum 06.01.2001 |