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Deutsche Leitkultur?
Stolz sein, stolz sein über alles
Gibt es die "Deutschen"? Tatsächlich wissen wir
doch: Völker sind keine echten Gemeinschaften. Und dass sie stets
totalitären Regimes dienen, ist auch kein Zufall
Wirklich beunruhigend an der Debatte über den
Nationalstolz der Deutschen ist, dass sie überhaupt geführt wird. Der
Sache nach findet sie nicht dort statt, wo sie hingehört: in die
Auseinandersetzungen über den Stiftungsfonds der deutschen Wirtschaft
und das schäbige Verhalten von Parlament, Regierung sowie Kanzler
gegenüber hoch betagten, schwer kranken Verfolgungsopfern. Der Streit um
den Nationalstolz findet statt, weil in zwei Bundesländern Wahlkampf
geführt wurde und CDU/CSU dem einfallslosen Pragmatismus der
Bundesregierung nichts entgegen- zusetzen haben. Daher verbinden sie
weiche Themen wie "Leitkultur", "1968" und "Patriotismus" mit einer
Charakterfrage, um überhaupt gehört zu werden. Das ist schade, denn das
Thema wirft durchaus klärenswerte sozialphilosophische Fragen auf -
zumal im Zeitalter der Globalisierung, des schleichenden
Bedeutungsverlusts der Nationalstaaten und der europäischen Einigung.
"Stolz" gilt in der Theorie moralischer Gefühle - also
jener spontanen Regungen, mit denen wir auf Situationen reagieren, in
denen unsere Vorstellungen von dem, was gut, gerecht und angemessen ist,
berührt werden - in etwa als das Gegenteil von "Scham". "Scham" zeigt
das von anderen mit Verachtung beobachtete Über- schreiten bisher
geschützter körperlicher, psychischer, sozialer und moralischer Grenzen
an, gleichgültig, ob wir diese Grenzen überschritten haben oder ob
unsere eigenen Grenzen von anderen verletzt wurden. Auch und gerade
Opfer unterliegen oft genug der Scham. Als Gegenteil der Scham zeigt nun
der Stolz das sich und anderen gegenüber demonstrierte Wohlgefühl über
eigenes Sein oder Handeln an.
Wo in der Scham die Verletzung von Grenzen schmerzlich registriert wird,
wird beim Stolz das Bestehen von Grenzen gefeiert. Das erregt unsere
Aufmerksamkeit meist dann, wenn das, was durch diese Grenzen markiert
oder geschützt wird, in unseren Augen einen besonderen Wert hat: unser
körperliches Wohlbefinden, unsere persönliche Selbstachtung oder jene
sozialen Zusammenhänge, in denen wir uns wohlfühlen und geachtet sehen:
vom Kegelverein über eine Liebesbeziehung bis womöglich zu der Familie,
in der wir groß geworden sind.
Grenzen entstehen, bestehen, werden errichtet oder
verletzt. Mit unseren leiblichen Grenzen werden wir geboren, unsere
psychischen müssen wir unter Schmerzen im Prozess der Sozialisation
erfahren, während wir die Grenzen unserer sozialen Zusammenhänge meist
vorfinden, aber in begrenzten Maßen auch selbst gestalten und verändern
können - jedenfalls leichter als die unseres Leibes oder unserer Psyche.
Wer also kundgibt, dass ihm das, was hinter jenen Grenzen, die in Zeit
und Raum, in Geschichte und Geografie die "Deutschen" umschließt,
wertvoll ist, muss nicht unbedingt selbst am Errichten dieser Grenzen
beteiligt gewesen sein.
Gewiss stellt "stolz" immer auch eine Art Leistungsprädikat in dem Sinne
dar, dass man sich durch dieses oder jenes Handeln näher bestimmt oder
eben von anderen abgegrenzt hat. Das heißt aber nicht, dass man
grundsätzlich nicht auch auf das stolz sein könnte, was man einfach - in
irgendeiner Hinsicht - ist oder vorgefunden hat. Eltern können auf die
schulischen Leistungen ihrer Sprösslinge auch dann zu Recht stolz sein,
wenn sie nichts zu diesen Leistungen beigetragen haben. So wie wir uns
für uns nahe Menschen über Identifikation schämen können, können wir
auch mit ihnen stolz sein.
Nur: ob dies Gefühl jeweils angemessen ist oder
nicht, lässt sich durchaus diskutieren und wird umso
diskussionswürdiger, je zweifelhafter der durch die symbolischen oder
physischen Grenzen geschützte Bereich ist.
Wir hätten also sowohl Laurenz Meyer, der dies alles ganz anders als die
Skinheads meint, als auch diese selbst zu fragen, wer oder was überhaupt
die "Deutschen" sind und was an ihnen so besonders wertvoll erscheint.
Die hier gern gegebene Antwort, dass es ganz normal sei, auf seine
Nationalität stolz zu sein, gilt ab jetzt übrigens nicht mehr, da wir
uns ja in einer systematischen oder eben philosophischen Klärung
befinden, in der alles zu begründen ist. In solchen Diskursen versteht
sich noch nicht einmal Normalität von selbst. Schon eine mögliche
Antwort auf die Frage, die nach den Deutschen, stößt auf große
Schwierigkeiten: Geht es nur um jenen Teil der Bevölkerung der
Bundesrepublik, der einen deutschen Pass hat, oder um all jene
deutschsprachigen oder deutschstämmigen Menschen, die irgendwo - von
Brasilien bis Kasachstan - leben und keine Schweizer oder
österreichische Staatsangehörigkeit haben?
Waren Kaiser Friedrich Barbarossa oder der Alte Fritz
von Sanssouci, der nur Französisch sprach, "Deutsche"? Wann überhaupt,
so hat der Historiker Johannes Fried gefragt, traten die "Deutschen" in
die Geschichte ein? Zur Zeit der römischen Antike als Germanen im
Bärenfell oder erst nach Gutenberg und der Lutherbibel, in mehr als
hundert Staaten lebend? Sogar wenn wir wüssten, worin die historische
Identität der Deutschen besteht, müssten wir fragen, um wessen Identität
es sich hier handelt. Mit Sicherheit nicht um die einer wirklichen
Gemeinschaft.
Gemeinschaften, in denen wir uns geachtet sehen und wohlfühlen, haben es
an sich, dass die Menschen dort von Angesicht zu Angesicht verkehren und
einander kennen. Begriffe wie Volks-, Klassen- oder Rassengemeinschaft
sind also widersinnig. Und es ist auch kein Zufall, dass sie stets
totalitären Regimes dienen.
Geht es also um die oszillierenden Grenzen eines
Rechts-, eines Wirtschafts- oder Sprachraums mit seiner Geschichte?
Vielleicht. Spätestens jetzt wäre aber die Frage zu beantworten, was
einem an dieser verwirrenden Vielfalt von Bismarcks Krieg gegen
Frankreich über die Dichtungen Goethes, die Lyrik von Brecht, VW,
NS-Vernichtungslager, die FDJ, das Bruttosozialprodukt, das Grundgesetz
bis zur Bodenseeinsel Mainau so wertvoll ist, dass man ernstlich die
Behauptung vertreten kann: All dies trägt ungeteilt zu meiner
Selbstachtung bei und erhält, ja erhöht mein Wohlbefinden!
Man muss also Laurenz Meyer keineswegs unterstellen,
ein Skinhead zu sein, um zu erkennen, dass sein Ausbruch von Stolz
nichts weiter als eine unüberlegte oder nur zu gut überlegte façon de
parler war, die ernstlich nicht zu halten ist. Umgekehrt lässt sich der
Schluss kaum vermeiden, dass all jene, die, ohne dies ausweisen zu
können, vorgeben, stolz auf ihre Deutschheit zu sein, töricht
daherplappern oder -fühlen. Nun mögen gewiefte Politiker wie Wolfgang
Schäuble einwenden, dass derlei Erwägungen weltfremd seien, da die
Wähler an den Stammtischen sehr wohl national empfänden und alles darauf
ankäme, sie nicht den Rechtsextremisten in die Arme zu treiben. Dem hat
die CDU in Rheinland-Pfalz mit ihrer Unterschriftenliste unter den
wehenden Bannern der NPD entsprochen. Seien wir also stolz auf eine
Partei, die den Rechtsextremismus unter dem Vorwand, ihn zu isolieren,
eingemeindet hat.
MICHA BRUMLIK aus: TAZ 26.03.2001
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28.03.2001 |