Rentable Immigranten
GLOBALISIERTE ÖKONOMIE - ARBEIT OHNE GRENZEN
IM März dieses Jahres war in den amerikanischen
Unternehmen der Informationstechnologiebranche die Quote von 115 000
H1-B-Visa für ausländische Arbeitnehmer erreicht. In Deutschland,
Frankreich oder auch Österreich wird zwar über die Einwanderungsfrage
heiß debattiert, aber dabei überwiegen vor allem pragmatische und
arbeitspolitische Aspekte.
Von ALAIN MORICE
* Forscher am Centre National de Recherche
Scientifique, Mitarbeiter am Forschungsprojekt Unité de recherches
Migrations et Sociétés (Urmis).
Vor drei Jahren ließ der damalige Ministerpräsident
Juppé eine von illegalen Einwanderern besetzte Kirche in Paris gewaltsam
räumen. Zwei Jahre später entdeckte Juppé einen Bedarf an "zusätzlichen
ausländischen Arbeitskräften", dabei verwies er auf gewandelte
"Einstellungen" und die "Probleme in der Bevölkerungsentwicklung".(1)
Die Verwirrung bei seinen Freunden in der Opposition war groß, obgleich
Juppés politischer Schwenk so neu nicht war. Schon der ehemalige
RPR-Innenminister Pasqua, einst Schreck aller "Illegalen" und
Befürworter der "Null-Einwanderung", hatte mit seiner Forderung, den
Status aller Ausländer ohne gültige Papiere zu legalisieren, für Unruhe
in den Reihen der Opposition gesorgt.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs verläuft die
französische Einwanderungspolitik in Pendelbewegungen. Bis in die
siebziger Jahre ging es hauptsächlich darum, den Arbeitskräftehunger der
Wirtschaft zu befriedigen. Die massenhaft ins Land geholten
Arbeitsmigranten waren ein beliebig verfügbares Proletariat. In den
achtziger und neunziger Jahren schlug das Pendel nach der anderen
Richtung aus: Die Grenzen wurden dichtgemacht, ein fremdenfeindliches
Klima machte sich breit. Und heute, zu Beginn des neuen Jahrhunderts,
ist in Europa plötzlich wieder die Rede von erwünschten
Arbeitsmigranten.
Angestoßen wurde die Diskussion in Frankreich von den
im Parlament vertretenen Rechtsparteien, die im allgemeinen wenig
Neigung verspüren, ihre Wähler in dieser sensiblen Frage vor den Kopf zu
stoßen. Auch die Industrie, die sich diesbezüglich üblicherweise
zurückhält, meldete sich vorsichtig zu Wort: "In Anbetracht des für 2005
erwarteten demographischen Einbruchs wäre es nicht abwegig, die
Migrationsströme umzukehren", erklärte Denis Gautier-Sauvaignac,
Generalbevollmächtiger des Arbeitgeberverbandes Union des Industries
Métallurgiques et Minières (UIMM).(2)
Ein Bericht der UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen,
dessen erste Fassung Anfang dieses Jahres für einige Aufregung sorgte,
verlieh dieser Kehrtwende eine globale Dimension. Glaubt man den
Berichterstattern der UNO, so braucht Europa in den kommenden fünfzig
Jahren insgesamt 700 Millionen Zuwanderer.(3 )Wir wollen uns hier nicht
mit diesen "extravanten"(4) Zahlen auseinandersetzen - die Technokraten,
die solche Berechnungen anstellen, würden unter anderen Umständen gewiss
"Toleranzschwellen" ausmachen -, sondern die merkwürdige Stimmung in
Augenschein nehmen, von der solche Berechnungen getragen werden.
Weshalb will man plötzlich wieder Einwanderer ins Land
holen? Die Argumente der Befürworter lassen einen engen Zusammenhang
zwischen demographischen und wirtschaftlichen Aspekten erkennen und
legen daher den Schluss nahe, dass sie lediglich eine "flexiblere"
Arbeitsmarktpolitik anstreben. Bereits 1995, als die extreme Rechte in
einer schwierigen Lage ihre Position stärken konnte, prognostizierte der
"Boissonnat-Bericht" einen "Mangel an Arbeitskräften", der eine
"neuerliche Einwanderung wie in den Jahren 1950 bis 1970 möglich"
mache.(5)
Heute steht die Frage fast überall in Europa wieder
auf der Tagesordnung. "Wird die Zuwanderung, nachdem sie aus politischen
Gründen bekämpft wurde, nun aus wirtschaftlichen Gründen verteidigt?",
räsonniert der Figaro im Wirtschaftsteil seiner Ausgabe vom 3.
August 2000: Die Frage sei jedenfalls "nicht mehr tabu". Und der
französische Europa-Abgeordnete Sami Naïr vom (angeblich
sozialistischen) MDC erklärt, fast im Geiste der eugenischen Selektion:
"Die europäische Wirtschaft braucht heute junge, kräftige und
qualifizierte Arbeitskräfte, um weiter wachsen zu können und die
Überalterung der Bevölkerung auszugleichen."(6)
Wer wird unsere Renten bezahlen, wenn nicht die neuen
Immigranten, lautet die dringliche Frage. Den erwähnten Berechnungen der
UNO liegt denn auch die Annahme zugrunde, dass das Zahlenverhältnis
zwischen Erwerbsbevölkerung und Rentnern beibehalten werden müsse. "Das
Hauptproblem bleibt die Geburtenrate, die beim derzeitigen Stand nicht
ausreicht, um das soziale Sicherunssystem zu finanzieren", fügt der
Figaro hinzu, der die Immigranten gestern noch als Profiteure eben
dieses Sozialsystems gegeißelt hat.
So erhält einen neuen, modischen Anstrich, was
unmittelber nach dem Krieg unter dem Stichwort "Wiederbevölkerung"
stattfand. Damit ist aber auch schon gesagt, dass die anstehenden
einwanderungspolitischen "Maßnahmen" ähnlich unstimmig ausfallen werden
wie die nach 1945. Die Hauptsorge der Arbeitgeber ist der Mangel an
qualifiziertem Personal, vor allem im Bereich der neuen Technologien.
Für die Regierenden stellt sich das Problem etwas anders: Wie lassen
sich die Migrationsströme qualitativ und quantitativ an die Nachfrage
anpassen? Nach welchen Kriterien sollen die Herkunftsländer ausgewählt
werden? Mit anderen Worten: Wie lässt sich verhindern, dass die
Migranten auf den Geschmack kommen und "sich festsetzen"?
Als Gerhard Schröder ankündigte, er wolle 20 000
ausländische Informatiker für die deutsche Wirtschaft anwerben, gab es
nicht nur bei den Rechten Geschrei; auch die Gewerkschaften äußerten
angesichts von vier Millionen Arbeitslosen Unverständnis. Sogleich
präzisierte der Kanzler, die "Green Card" solle nur fünf Jahre gelten;
eine Ausweitung auf andere Wirtschaftszweige sei nicht beabsichtigt.
Die "Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte", heißt es
im oben erwähnten Figaro-Artikel, "betrifft nicht nur die
begehrten Fachkräfte, sondern auch unqualifizierte (Saison-)Arbeiter".
Gerade in solchen Sektoren kann von einem Mangel an Arbeitskräften keine
Rede sein, wohl aber von der Unfähigkeit der Arbeitgeber, die
Beschäftigten würdig und nach den geltenden Bestimmungen zu behandeln.
Im französischen Hotel- und Gaststättengewerbe zum
Beispiel, bei der Obsternte und in den Zulieferbetrieben der Bau- und
Textilindustrie ist Arbeitsrecht praktisch ein Fremdwort geblieben.(7)
Dass sich die Franzosen für diese Arbeit zu gut seien, wie es oft heißt,
stellt den eigentlichen Sachverhalt auf den Kopf. Die Arbeitsbedingungen
in diesen Sektoren sind so unsäglich, die Löhne so niedrig und die
Arbeitszeiten so haarsträubend, dass die Arbeitgeber für diese so
genannte 3D-Arbeit ("demanding, dangerous, dirty" - anstrengend,
gefährlich und schmutzig) gar keine Franzosen wollen. Freilich wäre es
gewissen Leuten trotzdem viel lieber, wenn in diesen Bereichen -
parallel zur "High-Tech-Immigration" - "unsere eigenen" Humanressourcen
- Frauen, junge Menschen und Arbeitslose - zum Einsatz kämen. Und
folgerichtig plädieren sie denn auch für eine Aufweichung der
arbeitsrechtlichen Bestimmungen.
ANGESICHTS dieses Klimas kann uns ein Bericht
über die albanischen Saisonarbeiter in Griechenland nicht mehr
erstaunen: Griechische Landwirte reagieren "äußerst ungehalten", wenn
illegale Einwanderer festgenommen und abgeschoben werden, und fordern
von der Regierung ein Ende der Polizeirazzien: "Als Gegenleistung würden
sie sich verpflichten, die Arbeiter nach der Erntesaison
höchstpersönlich an die Grenze zurückzubegleiten." Die Landwirte
erklärten,"sie kämen ohne die Arbeitsmigranten nicht aus, da diese sich
mit weniger als der Hälfte des Tageslohns zufrieden geben, den ein
griechischer Arbeiter verlangt".(8)
Patrick Weil, dessen Überlegungen 1997 in eine
Scheinreform der französischen Einwanderungsgesetzgebung mündeten,
verwickelt sich mit seinen Politikvorschlägen - Selektion der
Einwanderer, utilitaristische Beschäftigungspolitik - in erhebliche
Widersprüche. Der leidenschaftliche Anhänger des Nationalstaats, der
seit jeher für eine konsensfähige "Entpolitisierung" der
Einwanderungsfrage eintrat, spricht sich neuerdings gegen
Quotenregelungen und für die "Aufhebung des Beschäftigungsvorbehalts"
aus - freilich nur für bestimmte Beschäftigungsgruppen, darunter wieder
einmal die Informatiker.(9)
Noch vor vier Jahren sprach sich dieser Experte für
eine deutsche Quotenregelung aus, die 5 700 "Gastarbeitern" die
Möglichkeit bot, 18 Monate in Deutschland zu arbeiten und sich dabei
angeblich auch weiterzubilden. "Diese zeitlich engbegrenzten regionalen
Migrationsbewegungen entsprechen einem gemeinsamen Bedürfnis der
beteiligten Staaten und aller Wirtschaftsakteure", schrieb Weil 1996 und
forderte Frankreich auf, diesen Weg ebenfalls einzuschlagen.(10)
Inzwischen macht Weil geltend, dass "nicht der Staat, sondern die
Unternehmen Arbeitskräfte einstellen".(11)
Die gegenwärtige ideologische Stimmungslage bringt in
manchen europäischen Ländern wieder einmal den höchst opportunistischen,
das heißt utilitarischen und pragmatischen Charakter der
Einwanderungspolitik zum Vorschein. Diese orientiert sich stets nur an
kurzfristigen Interessen und schafft es nur selten, einmal Begonnenes
fortzusetzen, geschweige denn den Immigranten mit Achtung zu begegnen.
Ganz in der guten alten Tradition der französischen Demographen der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts(12 )kann sie ihren eugenischen
Hintergrund nur schwer verheimlichen, weshalb sie die "europäischen
Ausländer" gegenüber "nichteuropäischen Ausländern" nach wie vor als
höherwertig einstuft.
Von Zynismus zeugt auch die Anweisung der
französischen Regierung an die zuständigen Beamten, sie mögen die
Vorschriften großzügig auslegen und "für Informatiker ein vereinfachtes
Zulassungsverfahren einführen"(13). Und was ist von jenen
Forstunternehmern in den Pyrenäen zu halten, die vor 26 Jahren junge,
kräftige Holzfäller aus Marokko rekrutierten und sie heute wegen
Leistungsschwäche auf die Straße setzen und gleichzeitig den Import
eines neuen Kontingents von Arbeitskräften fordern?
Ein weiteres Beispiel: Vor Jahren rekrutierte die zu
Frankreich gehörende Karibikinsel Saint-Martin massenhaft Arbeitskräfte
aus dem karibischen Raum, um ihren Tourismussektor aufzubauen. Nach dem
Wirbelsturm im September 1995 wies die Regierung den Bürgermeister der
gleichnamigen Hafenstadt an, den (Wiederauf-)Bau von Notbehausungen auf
der ganzen Insel zu verbieten, um die fortan unerwünschten Ausländer
wieder loszuwerden.(14)
Im Dezember dieses Jahres werden sich die Staats- und
Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten in Nizza über die Harmonisierung
der europäischen Einwanderungpolitik beraten. Dabei steht zu befürchten,
dass man schrittweise die erneuerbaren und Arbeits- und
Aufenthaltsgenehmigungen abschaffen will. Dies aber würde zu dem
endlosen Elend und den kafkaesken Situationen führen, wie sie jede
Einwanderungsgesetzgebung mit sich bringt, die keine Rücksicht auf die
fortschreitende Verwurzelung der Immigranten im Ankunftsland nimmt und
die menschliche Dimension jeder Emigration ignoriert.
dt. Bodo Schulze
Fußnoten:
(1) Alain Juppé, Le Monde, 1. Oktober 1999.
(2) Le Monde, 6. Januar 2000.
(3) United Nations, Replacement Migration: Is it a Solution to Declining
and Ageing Population?, New York, März 2000.
(4) So Henri Leridon im monatlichen Mitteilungsblatt des Institut
National d'Études Démographiques (INED), Populations et sociétés 358
(Juni 2000). Eine historisch orientierte - und weniger utilitaristische
- Kritik der UN-Untersuchung findet sich bei Hervé Le Bras, "Les mauvais
calculs de l'ONU", Libération, 29. März 2000.
(5) Commissariat Général du Plan, "Le travail dans vingt ans", Paris
(Odile Jacob - La Documentation française) 1995.
(6) Libération, 23. Juni 2000.
(7) Dazu "Quand la lutte contre l'emploi illégal cache les progrès de la
précarité légale", in: Didier Fassin, Alain Morice u. Catherine
Quiminal, "Les lois de l'inhospitalité", Paris (La Découverte) 1997.
(8) Migrations Europe, August 1999.
(9) Le Monde, 20. Juni 2000.
(10) Patrick Weil, "Pour une nouvelle politique d'immigration",
Esprit, April 1996.
(11) Le Monde, 20. Juni 2000.
(12) Dazu Hervé Le Bras u. Sandrine Bertaux, "L'Invention des
populations. Biologie, idéologie et politique", Paris (Odile Jacob)
2000.
(13) Circulaire DPM/DM2-3/98/767 vom 28. Dezember 1998.
(14) Mission Saint-Martin-Guyane, "Sur l'île de Saint-Martin, d'un
cyclone naturel à un cyclone administratif, En Guyane et à Saint-Martin.
Des étrangers sans droits dans une France bananière", März 1996.
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