SS-Männer unter sich
Das Ravensburger Landgericht führt einen
Prozess gegen den ehemaligen Untersturmführer Julius Viel.
von willy roos
God is on my side.« Im
Frankfurter Auschwitz-Prozess, der 1965 nach zwanzig Monaten zum
Abschluss kam, waren noch gut zwei Drittel der 359 vernommenen Zeugen
ehemalige Häftlinge. Neben der Verurteilung der Täter gelangte mit
diesem größten NS-Verfahren in der deutschen Prozessgeschichte erstmals
die Darstellung der Shoah aus Sicht der Opfer ins Blickfeld der
bundesrepublikanischen Öffentlichkeit. Überlebende wie das ehemalige
Mitglied des Birkenauer »Sonderkommandos« Filip Müller berichteten
tagelang ausführlich über die Einzelheiten des Vernichtungsprozesses.
Wer heute die Tonbandmitschnitte der »Strafsache gegen Mulka und andere«
anhört, dem schwindet die Vorstellung, er wisse längst darüber Bescheid,
was in den Menschenschlachthäusern der Nazis geschah.
Zu Beginn der zweiten Verhandlungswoche in Ravensburg verliest der Beisitzende
Richter Hutterer einen vom 31. August 1961 datierten, an das Bezirksgericht Graz
gerichteten Brief des inzwischen verstorbenen Heinrich Widmayer. In den
folgenden Minuten wird begreiflich, wie ein NS-Prozess aussehen kann, wenn er
auf die Opferperspektive zulässt: Mitte März 1945, so der spätere
österreichische Nationalrat Widmayer, mussten die Gefangenen der »Kleinen
Festung Theresienstadt« einen Graben ausheben, der die vorrückenden Panzer der
Roten Armee aufhalten sollte. Fast täglich seien Mithäftlinge auf dem Rückmarsch
von der Panzersperre erschlagen worden.
Der stellvertretende Kommandant des Gestapo-Kerkers, Rojko, habe nach Lust und
Laune seine Kapos angewiesen, Häftlinge am Graben zu töten. Die
Wachmannschaften, SS-Männer aus dem nahen Leitmeritz, hätten sich einen »Sport«
daraus gemacht, die zur Arbeit Verdammten mit Zigaretten aus dem Bewachungskreis
zu locken, und sie dann »auf der Flucht erschossen«. Insgesamt seien mindestens
100 Häftlinge beim Graben getötet worden.
An diesem Panzergraben soll auch Julius Viel gemordet haben. Sein ehemaliger
Untergebener auf der nur wenige Kilometer von Theresienstadt entfernten
SS-Führerschule in Leitmeritz, Adalbert Lallier, beschuldigt ihn der Tat.
Lallier will gesehen haben, wie der Untersturmführer aus einer Gruppe von
Offizieren getreten sei, ein Gewehr in die Hand genommen und »ruhig und
konzentriert« sieben Häftlinge erschossen habe, vermutlich Juden. Viel
bestreitet die Tat.
Aber es ist nicht das erste Mal, dass gegen den mittlerweile 82jährigen Rentner
ermittelt wird. Anfang der sechziger Jahre trat schon einmal ein Zeuge von der
SS-Führerschule in Leitmeritz auf, der Viel des Mordes an Häftlingen der
»Kleinen Festung« beschuldigte. Im Lauf der Ermittlungen starb der Mann jedoch,
und das Verfahren wurde 1964 eingestellt. Die Akten gelangten zur
Oberstaatsanwaltschaft Aachen und verschwanden dort. Julius Viel arbeitete
weiter als Redakteur der Stuttgarter Zeitung und wechselte 1973 zur Schwäbischen
Zeitung, wo ihm, wie eine ehemalige Kollegin heute bekundet, durchaus »der Ruch
des Nazis« anhaftete. Seit 1983 trägt er das Bundesverdienstkreuz.
»Wieso sitzen wir jetzt hier?« Die Frage, die der Vorsitzende Richter Winkler am
13. Dezember Adalbert Lallier stellt, scheint banal, vielleicht sogar zynisch.
Doch sie zielt auf den Kern des Verfahrens. Warum wurde Julius Viel nicht schon
längst, sagen wir vor einem halben Jahrhundert, angeklagt? Weil in der
Bundesrepublik der frühen fünfziger Jahre das Interesse nicht groß war,
NS-Verbrechen zu ahnden, und weil nach den Nürnberger Prozessen, die
ursprünglich als Muster für weitere Verfahren dienen sollten, der Kalte Krieg
die Politik der Alliierten bestimmte.
Sowohl der US-amerikanische Geheimdienst CIC als auch ein Benediktinermönch in
der Wiener Schottenkirche, denen Lallier unmittelbar nach Kriegsende von den
Morden am Panzergraben erzählt hatte, behielten ihr Wissen für sich. Der
ehemalige SS-Mann Lallier, der in Kanada eine Universitätskarriere machte,
brauchte fünfzig Jahre, um über das Vernichtungssystem der Nazis, an dem er
beteiligt war, auszusagen. Am 30. April 1997, nach einem Besuch in
Theresienstadt, nahm er Kontakt zu Steven Rambam auf, einem Privatdetektiv. »His
name is Julius Viel«, sagte er zu ihm. Drei Tage später wusste Rambam, wo Viel
wohnte: in Wangen-Deuchelried, Landkreis Ravensburg.
Am Landgericht Ravensburg, wo Rambam am vergangenen Freitag als Zeuge auftrat,
begegnen einige dem US-amerikanischen Juden und »Nazijäger« mit nur mühsam
verhohlenem Ressentiment. Nicht nur Rechtsanwalt Pfliegner verdächtigt ihn des
Deutschenhasses. Der Anwalt wagt die Bemerkung, Rambam wollte seiner Frau nicht
die Hand geben. Der ehemalige Waffen-SSler Lallier dramatisiert dagegen seine
Entscheidung, nach einem halben Jahrhundert gegen einen Vorgesetzten auszusagen,
mit Worten, die noch von den alten faschistischen Kategorien zeugen: Ende der
neunziger Jahre sei er vor »der schwersten Entscheidung seines Lebens
gestanden«, nämlich sich »vom Treueid des Schweigegebots der SS zu trennen«.
Für die anderen bisher vernommenen ehemaligen Kameraden von der Führerschule in
Leitmeritz, die alle bis auf einen nichts gesehen haben wollen, gelte immer noch
der Wahlspruch: »Unsere Ehre heißt Treue.«
Aus: Jungle
World Nr 52
|