Migration und Staatssouveränität
ARBEIT OHNE GRENZEN
Im Vorfeld des Europa-Gipfels in Nizza beschwört
EU-Kommissar Antonio Vitorino die Mitgliedsländer, die
"Null-Einwanderungs-Politik der letzten 20 Jahre" sei nicht mehr
durchzuhalten, weshalb man eine "Politik der Öffnung" einleiten müsse.
Was in Europa jedoch neuerdings betrieben wird, ist eine Politik der
Selektion. Man umwirbt die an indischen oder marokkanischen
Universitäten hervorragend ausgebildeten Fachkräfte.
Einige wenige "Unerwünschte", die es eher zufällig
trifft, werden in die Heimat zurückverfrachtet, während der große Rest
vor Ort unerträgliche Arbeitsbedingungen hinnehmen muss. Der verstärkte
Druck gegen illegale Einwanderer zeugt von der panischen Angst der
politisch Verantwortlichen, die Zuwanderungsströme nicht mehr
kontrollieren zu können. Die Staaten und ihre Regierungen sollten aber
erkennen, dass sie mit der Unterzeichnung zahlreicher internationaler
Wirtschaftsabkommen und Menschenrechtsvereinbarungen entscheidend zur
Globalisierung der Arbeit beigetragen haben.
Von SASKIA SASSEN
* Soziologin an der Chicago University, zuletzt
auf Deutsch erschienen:
"Machtbeben. Wohin führt die Globalisierung", München (DVA) 2000.
MIT der Herausbildung eines globalen
Wirtschaftssystems sind ganz neue Bedingungen entstanden, die sich auf
die regulierende Rolle des Staates und auf seine Autonomie auswirken,
aber auch auf den Charakter der internationalen Beziehungen. Vor diesem
Hintergrund stellt sich die Frage, ob man die Einwanderungsproblematik
noch als eine von allen übrigen Bereichen abgekoppelte Dynamik
betrachten kann, ob sie noch so unmittelbar und einseitig mit nationaler
Souveränität zu tun hat.
In Westeuropa, in Nordamerika und in Japan herrscht
heute die Vorstellung, wir hätten es mit einer Krise der
Einwanderungskontrolle zu tun. Doch diese Vorstellung steht einer
ernsthaften Debatte im Wege. Denn die entscheidende Frage lautet gerade
nicht, wie effizient die Staaten ihre Grenzen kontrollieren können.
Solche Kontrollen werden immer unvollkommen bleiben. Die entscheidende
Frage lautet vielmehr: Welchen Charakter haben Grenzkontrollen im
Zeitalter der Globalisierung? Eine entscheidende Konsequenz der
globalisierten ökonomischen Strukturen für die Einwanderungspolitik
besteht darin, dass die Souveränität des Staates und seine Fähigkeit zu
selbstständigem Agieren eingeschränkt werden. Durch die Realität der
ökonomischen Globalisierung sind die Staaten gezwungen, multilateral zu
agieren.
Am deutlichsten wird dies an den Aktivitäten der WHO
und am Ablauf der globalen Finanzkrisen. Sowohl die Beeinträchtigung der
staatlichen Souveränität als auch die Einbindung des Staates in das neue
globale Wirtschaftssystem haben den Staat selbst transformiert und die
Macht der verschiedenen innerstaatlichen Organisationen verändert.
Dieselbe Entwicklung hat zugleich die Internationalisierung der
zwischenstaatlichen Beziehungen vorangetrieben, insofern immer mehr bi-
und multilaterale Vereinbarungen entstanden sind. Angesichts dessen kann
man dem Staat nicht mehr eine souveräne Kompetenz bei der Ausgestaltung
und Durchsetzung seiner Einwanderungspolitik unterstellen.
Zwar verfügt der Nationalstaat noch immer über die
Macht, seine eigene Einwanderungspolitik festzuschreiben, doch
angesichts vielfältiger internationaler Verpflichtungen kann er die
realen Migrationsbewegungen mit seiner Politik - im konventionellen
Sinne des Wortes - nur noch marginal beeinflussen. Statt eine Krise der
Kontrolle zu behaupten, müssen wir uns also mit den äußeren Zwängen
befassen, denen die Staaten zunehmend ausgesetzt sind - und die ihre
Migrationspolitik genau so stark, wenn nicht stärker bestimmen als
staatliche Maßnahmen gegen einzelne Menschen an den Grenzen. Dabei
zeichnet sich die Einwanderungspolitik der entwickelten Länder nicht
gerade durch bedeutende Innovationen aus, wie wir sie aus anderen
politischen Bereichen kennen. Drei Schlüsselmerkmale, die in den
ökonomisch hoch entwickelten Ländern den Rahmen für die
Einwanderungspolitik setzen, sind hier zu erörtern.
Erstens: Die Einwanderung wird als ein Prozess
behandelt, der autonom und von anderen Prozessen und Politikfeldern
unabhängig ist. Zweitens: Einwanderungsfragen werden als eine
unilaterale Angelegenheit betrachtet, als ob sie in völliger staatlicher
Souveränität wahrgenommen würden. Drittens: Der Staat gilt als fixe
Größe, als völlig unbeeinflusst von den weitreichenden innenpolitischen
und internationalen Veränderungen, die sich auf den Staat auswirken.
Dass diese drei Merkmale mit den beschriebenen umfassenden
Transformationsprozessen immer weniger vereinbar sind und was dies
notwendigerweise für die Praxis bedeutet, soll im folgenden aufgezeigt
werden.
BEGINNEN wir mit der angeblichen Autonomie des
Migrationsprozesses. Dieser Prozess wird durch wichtige Akteure
beeinflusst, die man freilich selten als solche identifiziert. So gibt
es:
- multinationale Unternehmen, die maßgeblich zur
Internationalisierung der Produktion beitragen, also lokale
Kleinproduzenten verdrängen bzw. deren Überlebensperspektive innerhalb
der traditionellen Ökonomie beschränken und damit mobile Arbeitskräfte
hervorbringen, überdies knüpft die Entstehung neuer Produktionsstandorte
im Ausland Verbindungen zwischen den Kapital exportierenden und den
Kapital importierenden Ländern;
- Regierungen, die durch ihre militärischen
Operationen Menschen entwurzeln und damit Flüchtlings- und
Migrantenströme auslösen;
- internationale Organisationen wie der IWF, deren
Austeritätsprogramme die Armen der betroffenen Länder verzweifelte
Überlebensstrategien aufzwingen, zu denen auch die (nationale oder
internationale) Migration gehört;
- Freihandelsabkommen im Rahmen internationaler
Konferenzen, die grenzüberschreitende Bewegungen von Kapital,
Dienstleistungen und Informationen fördern, wozu vor allem auch die
Wanderung qualifizierter Arbeitskräfte gehört.
Warum wird über eine verantwortliche politische
Strategie hinsichtlich der internationalen Migrationsströme so viel
kurzatmiger nachgedacht als auf anderen Politikfeldern? Wenn es darum
geht, die ökonomischen Folgen der Veränderungsprozesse für die
Handelsbeziehungen oder die internationale Politik allgemein
abzuschätzen, bedenken die Experten die Folgen jeder Entscheidung auf
allen möglichen Politikfeldern und versuchen, eine Kompromisslösung zu
finden, die den unterschiedlichen Aspekten gerecht wird. Zu diesen
Politikfeldern gehört allerdings nie das Einwanderungsproblem. Die
Auswirkungen auf dieses Problem werden nicht bedacht - auf der Karte der
Politiker kommt es einfach nicht vor.
Die Einwanderungspolitik wird nach wie vor als
vollkommen isoliert von den anderen wichtigen Politikfeldern behandelt,
als handele es sich tatsächlich um eine völlig eigenständige Sache.
Diese Blindheit erklärt, warum die politischen Strategien - egal ob man
sie negativ oder positiv bewertet - ihrem Ziel nie gerecht werden. Aber
wäre es für diejenigen, die sich an der Diskussion über
Einwanderungspolitik beteiligen, nicht nützlich gewesen, besagte
Wechselwirkungen mit anderen Politikfeldern zu erkennen und in Rechnung
zu stellen? Noch 1988, als ich mich erstmals mit diesen Fragen
beschäftigt habe, war es völlig unvorstellbar, über solche Zusammenhänge
auch nur zu diskutieren.
Erst im Rahmen der Debatte um die Nafta, also ab 1992,
wurde die Fragestellung üblich, wie sich die Bildung dieser
Freihandelszone wohl auf die Einwanderung - speziell von Mexikanern in
die USA - auswirken würde. Mit dem wichtigen und bahnbrechenden
Forschungsbericht, den 1990 die Einwanderungsbehörde im
US-Arbeitsministerium vorlegte, war erstmals offiziell anerkannt, dass
die Aktivitäten von US-Firmen im Ausland ursächlich zur Entstehung von
Migrationsbewegungen beitragen. Damit war eine entscheidende Bresche in
den Wall geschlagen, mit dem man die angeblich autonome
Einwanderungspolitik von anderen Fragestellungen abgeschottet hatte. Die
Kalkulation solcher Wechselwirkungen ist eine komplizierte Sache,
komplizierter als die schlichte Annahme, Einwanderung sei nur die Folge
von Armut und beruhe auf individuellen Entscheidungen.
DOCH alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es
gerade die entwickelten Länder sind, die zur Entstehung der
Verbindungsstränge beitragen, die sich zwischen Emigrations- und
Immigrationsland spinnen. Gerade die Aktivitäten der entwickelten
Industrien haben erhebliche Auswirkungen auf die Menschen vor Ort und
die Art und Weise ihres Überlebens. Sie erzeugen in den
unterentwickelten Ländern genau die Bedingungen, die dazu führen, dass
die einheimische Bevölkerung in der Emigration eine
Überlebensperspektive sieht.
Als Beispiel sei hier auf die Globalisierung des
Marktes für Agrarprodukte verwiesen, und auf die Rolle, die hierbei die
US-amerikanischen Agrarkonzerne spielen. Sie haben in etlichen
Entwicklungsländern zur Entstehung einer exportorientierten
Plantagenwirtschaft beigetraten, die automatisch die
Überlebensmöglichkeit der Kleinbauern einschränkte. Diese wurden
folglich zu Lohnarbeitern auf den Großplantagen, oder sie müssen häufig
zwischen beiden Rollen hin- und herpendeln. Das bedeutet in der Regel
den Beginn einer (womöglich nur saisonalen) Binnenmigration - und damit
den ersten Schritt zur grenzüberschreitenden Migration. Dieses
Entwicklungsschema ist in vielen Teilen der Welt zu beobachten und gilt
auch für Mexiko und die karibische Region, also die Herkunftsregion
eines erheblichen Teils der Migranten in Richtung USA.
Ein zweites klassisches Muster: Wenn die westlichen
Gesellschaften ihre Fabrikations- und Montagebetriebe in
Niedriglohnländern errichten, trägt die Anwerbung weiblicher
Arbeitskräfte dazu bei, die traditionelle Dorfökonomie zu
destabilisieren, bei der die jungen Frauen im Produktionsprozess zumeist
eine wichtige Rolle spielten.
Die Männer folgten also den Frauen, zunächst in die
Stadt, am Ende gehen sie dann mitunter auch ins Ausland, einem
ungewissen Schicksal entgegen. Die Arbeit in den westlichen Unternehmen
bringt die Menschen mit den betreffenden Kapitalexportländern in
Berührung, was die subjektive Distanz der Fremdarbeiter zu diesen
Ländern reduziert. Anders ausgedrückt: Wenn ich hier in meinem Land
Früchte für die US-amerikanischen Haushalte pflücken kann, wenn ich hier
die Einzelteile eines elektrischen Haushaltsgeräts montiere, dann kann
ich diese Arbeit ebensogut in den Vereinigten Staaten verrichten.
Überdies ist die Unternehmensleitung bemüht, den
Arbeitern nicht nur die nötigen technischen Fertigkeiten zu vermitteln,
sondern auch ein gewisses Verhalten am Arbeitsplatz. Dieser Prozess der
Anpassung an die industrielle Arbeitsethik bereitet die Arbeiter auf
eine Tätigkeit "im Westen" vor. Die allermeisten Emigranten aus Mexiko,
Haiti und der Dominikanischen Republik stammen denn auch aus dieser
Arbeiterschicht.
Die Ursachenforschung hat ergeben, dass
Emigrationsbewegungen weitgehend durch staatliche Maßnahmen auf anderen
Politikfeldern bedingt sind. Zahlreiche Untersuchungen in aller Welt
gelangen zu dem Schluss, dass es sich hierbei jeweils weder um eine
Masseninvasion handelt noch um eine spontane Bewegung der Armut in
Richtung Reichtum. Im Lauf der europäischen Geschichte zum Beispiel
wanderten trotz fehlender Kontrollen, geringer Entfernungen und einem
erheblichen Reichtumsgefälle zwischen den einzelnen Ländern nur wenige
Menschen aus ärmeren in reichere Regionen.(1)
Das weit verbreitete Gefühl, wir hätten es mit einer
Krise der Migrationskontrollen zu tun, scheint demnach keineswegs
gerechtfertigt. Wenn die Staaten dennoch ein Kontrolldefizit beklagen,
so deshalb, weil Migrationsbewegungen einer anderen Dynamik folgen.
Migrationsströme sind zeitlich und räumlich stark determiniert und
gehorchen spezifischen Mechanismen. Sie dauern eine bestimmte Zeitspanne
- häufig rund zwanzig Jahre - und versiegen dann wieder. Überdies kehren
mehr Menschen in ihr Heimatland zurück, als im Allgemeinen angenommen
wird. Man denke an die jüdischen Intellektuellen und Ingenieure, die aus
Israel nach Russland zurückgingen, oder an die zahlreichen Mexikaner,
die im Gefolge der US-Regularisierungsprogramme in ihr Land
zurückkehrten, weil sie mit regulären Papieren nun frei zwischen den
beiden Ländern pendeln können.
ZAHLREICHE Feldstudien belegen, dass die
meisten Menschen nicht auswandern möchten und dass viele, die sich dazu
gezwungen sahen, nach einer gewissen Zeit gern zurückgehen würden, wenn
dies ohne Weiteres möglich wäre.
Neben der Globalisierung der Wirtschaft ist im Rahmen
der internationalen Beziehungen ein Gegengewicht gegen die staatlichen
Einwanderungskontrollen entstanden: der verbesserte Schutz der
allgemeinen Menschenrechte, wie er im innerstaatlichen Recht, aber auch
durch zwischenstaatliche Vereinbarungen kodifiziert wurde. Die
"Vergessenen" des Völkerrechts - im Entstehen begriffene Völker,
Migranten und Flüchtlinge, die Frauen - werden zu Rechtssubjekten
aufgewertet. Ihr neuer Status führt mitunter im staatlichen
Institutionengefüge zu heftigen Spannungen. Auch hat in den am meisten
entwickelten Ländern die Recht sprechende Gewalt eine neue strategische
Bedeutung erlangt, insofern sie sich bereit findet, die Rechte der
Immigranten, Flüchtlinge und Asylbewerber gegen die Entscheidungen der
Exekutive zu verteidigen.(2)
Die wachsende Bedeutung des Verwaltungsrechts und die
Verrechtlichung der Politik bedeuten auf der Ebene der einzelnen Ländern
zugleich weniger Etatismus. Immer häufiger werden in Westeuropa und in
den Vereinigten Staaten die Gerichte angerufen, um die Beschlüsse des
Gesetzgebers anzufechten. Die zunehmende Verlagerung der
Einwanderungskontrolle in die Zuständigkeit der Polizei (die mit dem
hohen Stellenwert der persönlichen Freiheits- und Grundrechte in diesen
Ländern kaum zu vereinbaren ist) wird daher gewiss auf juristischem Wege
angefochten werden. Die Reduktion der Einwanderungspolitik auf ihren
polizeilichen Aspekt lässt eine Flut von Rechtsstreitigkeiten auf den
Staat zukommen, dessen Fähigkeit zur Regulierung der Migrationsströme
dadurch keineswegs gestärkt wird.
Die Globalisierung der Wirtschaft und die diversen
Menschenrechtserklärungen haben mithin das Terrain verändert, auf dem
sich die zwischenstaatlichen Beziehungen abspielen. Beide Entwicklungen
tragen auch dazu bei, neue Formen von Bürgerinitiativen und -aktivitäten
hervorzubringen oder zu verstärken, mit einem breiten Spektrum von
Trägern, das von Wirtschaftsverbänden bis zu internationalen
Nichtregierungsorganisationen reicht. Die Immigration ist immer stärker
mit solchen neuen Betätigungsfeldern verflochten - oder sogar in sie
eingebunden -, und entzieht sich damit, zumindest teilweise, der
Kontrolle durch den souveränen Staat.
Indes hat auch der Staat das Seine dazu beigetragen,
der neuen Weltwirtschaftsordnung aus den Startlöchern zu helfen. Der
Weltkapitalismus hat seine Ansprüche gegenüber den Nationalstaaten
durchgesetzt, worauf diese mit neuen Rechtsformen reagierten. Sie
mussten eine neue Wirtschaftsgeografie erfinden, d. h. als kollektive
Akteure neue Handlungsmodalitäten entwickeln, die nötigen
Infrastrukturen zur Verfügung stellen, neue rechtliche Regime erarbeiten
und legitimieren.
Da immer mehr staatliche Mechanismen
grenzüberschreitend funktionieren und transnationale Wirkungen
entfalten, können die Regierungen wesentliche Probleme immer weniger im
Alleingang lösen. Das ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Ende des
Nationalstaats, hat allerdings zur Folge, dass "die Exklusivität und die
Endgültigkeit seiner Kompetenzen"(3) beeinträchtigt wurden: Die
Bereiche, in denen der Staat seine Autorität und Legitimität noch ohne
Rücksicht auf andere Akteure auszuspielen vermag, schrumpfen immer mehr
zusammen. Gleichzeitig wird das System der zwischenstaatlichen
Beziehungen im engeren Sinn durch die wachsende Institutionalisierung
nichtstaatlicher Machtsysteme hinfällig, insbesondere auf dem Feld der
Finanzen und der globalen politischen Entwicklungen.(4)
Auf der einen Seite drängt die allgemeine Entwicklung
also in Richtung Multilateralität, auf der anderen Seite wird die
Einwanderungspolitik weiterhin als unilaterales Problem gehandhabt.
Dieser Widerspruch löst sich nicht so sehr auf juristischer Ebene auf -
etwa durch bilaterale oder multilaterale Abkommen -, als vielmehr auf
faktischer Ebene, nämlich durch die bilaterale und multilaterale
Zusammenarbeit in der Reaktion auf bestimmte Teilaspekte der
internationalen Migrationsproblematik. Das gilt zum Beispiel für
Westeuropa, wo der ökonomische Einigungsprozess die EU-Regierungen auch
in allen anderen Politikbereichen zu supranationalen Lösungsansätzen
nötigt. So hat die EU zum Beispiel, um Asylbewerber und illegale
Einwanderer abzuhalten, mit den Ländern Mittelosteuropas Vereinbarungen
getroffen, die diese Länder faktisch zu einem Sicherheitskordon gegen
Asylbewerber verwandelt hat.(5 )Weitere Beispiele ließen sich unschwer
finden, was nur beweist, dass die Rhetorik der nationalstaatlicher
Souveränität eher für den Hausgebrauch bestimmt ist.
DER europäische Einigungsprozess macht die
Schwierigkeit deutlich, die unterschiedlichen Rechtsmaterien zu
verschmelzen, welche jeweils die Bewegungsfreiheit des Kapitals
respektive die der Migranten regulieren. Die Definition und die
Umsetzung einer gemeinsamen EU-Politik haben deutlich gemacht, dass
jedwede Einwanderungspolitik die rasch voranschreitende
Internationalisierung der Wirtschaft in Rechnung zu stellen hat. Führt
man sich die Etappen des Einigungsprozesses vor Augen, kann man präzise
feststellen, zu welchem Zeitpunkt die Staaten die zwischen ihnen
bestehenden Widersprüche angehen und so weit wie möglich auflösen
müssen.(6 )Je stärker die transnationalen Wirtschaftsräume durch
internationale Abmachungen reguliert werden, desto mehr Probleme wird
der bestehende einwanderungspolitische Rechtsrahmen aufwerfen(7) - zumal
in den hoch entwickelten Industrieländern, wo dieser Rahmen mit der
wachsenden Tendenz zu weltwirtschaftlicher Integration kollidiert.
Allerdings ist die Weltökonomie wenn nötig in der
Lage, bestehende Schranken für den freien Personenverkehr zu umgehen:
Man überträgt bestimmte Elemente staatlicher Souveränität auf
supranationale Organisationen, voran die Europäische Union und die
Welthandelsorganisation (WTO). Ein gut Teil der intellektuellen
Instrumente, mit deren Hilfe die Regierungen ihr Staatsvolk und ihr
Hoheitsgebiet früher kontrollierten, liegt heute in den Händen
nichtstaatlicher Institutionen. Ein Beispiel dafür sind die
privatisierten transnationalen Regelungen für den grenzüberschreitenden
Handel, aber auch die Tatsache, dass der Weltfinanzmarkt die nationalen
Wirtschaftspolitik immer stärker an die Wand spielt.
Die neuen Sonderregelungen für den
grenzüberschreitenden Verkehr von Arbeitskräften im
Dienstleistungssektor, wie sie im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und
Handelsabkommens (Gatt) und dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen
(Alena) festgeschrieben sind, subsumieren die implizierten
De-facto-Wanderungsbewegungen von Zeitarbeitskräften nicht mehr unter
Begriffe von Migration. Beide Abkommen zielen auf eine erhöhte
Arbeitskräftemobilität unter Federführung regierungsunabhängiger
supranationaler Institutionen wie der WTO.(8) Hier sehen wir die ersten
Ansätze zu einer Privatisierung gewisser Aspekte der Regulierung von
grenzüberschreitenden Arbeitskräftewanderungen.
Insofern sanktionieren diese beiden wichtigen
internationalen Abkommen abermals die Privatisierung der Bereiche, die
sich managen lassen und Profit versprechen. In der Tat weisen die
Arbeitskräfte, von denen diese Abkommen handeln, hochspezifische
Merkmale auf. Sie besitzen erstens ein hohes Bildungsniveau oder
Kapital, tragen also in besonderem Maße zur Wertschöpfung bei; sie
zeichnen sich zweitens durch hohe Flexibilität aus, arbeiten
höchstwahrscheinlich in High-Tech-Sektoren und kehren nach getaner
Arbeit in ihr Land zurück (mit anderen Worten: Sie sind sichtbar,
identifizierbar und lassen sich unter klare Regeln subsumieren); sie
bringen drittens dem Zielland hohen Gewinn, ein Vorteil, der angesichts
des neuen liberalen Verständnisses von Handel und Investitionstätigkeit
nicht zu unterschätzen ist.
Verlängert man diesen Entwicklungstrend in die
Zukunft, so werden die Regierungen nur noch für die "Problemfälle", die
"wertschöpfungsschwachen" Immigranten zuständig sein: für die Armen, die
nichtqualifizierten Billigarbeitskräfte, die Flüchtlinge, für abhängige
Familienmitglieder und jene Facharbeiter, die für politische Spannungen
sorgen könnten. Diese Zweiteilung der Arbeitsmigranten wird sich in
Zukunft wohl auch auf die begriffliche Definition des "Immigranten"
niederschlagen. Was eine solche Einengung des Migrationsbegriffs auf den
problemträchtigsten Teil der Migranten politisch bedeutet, kann man sich
unschwer ausmalen.
dt. Bodo Schulze
Fußnoten:
(1 )Dazu Saskia Sassen, "Guests and Aliens", New York (The New Press)
1999.
(2 )Recht besehen ist der Staat nicht mehr die einzige Quelle von
Souveränität (und der sie begleitenden Normensetzungsmacht) und auch
nicht mehr das einzige Völkerrechtssubjekt. Weitere Akteure - NGOs,
Minderheiten, supranationale Organisationen - verwandeln sich zunehmend
in Völkerrechtssubjekte und Akteure der internationalen Beziehungen.
Siehe Saskia Sassen, "Losing Control", New York (Columbia University
Press) 1996.
(3 )James Roseneau, "Along the Domestic-Foreign Frontier. Exploring
Governance in a Troubled World", New York (Cambridge University Press)
1997.
(4 )Dazu Yves Dezalay und Bryant Garth, "Dealing in Virtue.
International Commercial Arbitration and the Construction of a
Transnational Legal Order", Chicago (The University of Chicago Press)
1996.
(5 )Dazu Jelle van Buuren, "Die Europäische Union und ihr Cordon
sanitaire", Le Monde diplomatique, Januar 1999.
(6 )James Hollyfield, "Immigrants, Markets, and States", Cambridge
(Harvard University Press) 1992.
(7 )Demetrios G. Papademetriou und Kimberly A. Hamilton, "Converging
Paths to Restriction: French, Italian and British Responses to
Immigration", Carnegie Endowment for International Peace, International
Migration Policy Program, Washington, DC 1996.
(8 )Im Rahmen des Alena sind zahllose Expertenkommissionen mit
wirtschaftspolitischen Entscheidungen betraut, die eigentlich Sache der
gewählten Volksvertreter sein müssten. Hier wird also ein Machttransfer
von der Regierung zum Privatsektor sichtbar.
Le Monde diplomatique Nr. 6293 vom
10.11.2000, Seite 1,12-13, 62 Zeilen, Dokumentation SASKIA SASSEN |