Irrationale Abwehrreflexe
Neue Studie: Vorbehalte gegenüber
Minderheiten weit verbreitet. Wenig Logik bei Begründungen
jw, 10.01.2003, Inland, Jana Frielinghaus
Der etwas irreführende Titel der aktuellen empirischen Untersuchung des
Hallenser FOKUS-Instituts, »Haßgruppen in der deutschen Gesellschaft«,
sei vorrangig gewählt worden, »um Aufmerksamkeit zu erregen«, räumte
Institutsleiter Michael Chrapa bei deren Vorstellung am Donnerstag in
Berlin ein. Konkretes Ziel der Studie war die Ermittlung der Häufigkeit
von Negativurteilen über Personengruppen mit »andersartigen« Merkmalen
in der Bundesrepublik und wie dieselben begründet werden. Das Mittel der
Erhebung war eine schriftliche Befragung. Ausgewertet wurden 1800
beantwortete Fragebögen aus Ost- und Westdeutschland.
Die Ergebnisse zeigen, was jeder auch im eigenen Bekanntenkreis und dem
familiären Umfeld erlebt: Negative Wahrnehmungsmuster gegenüber
andersartigen, in irgendeiner Weise auffälligen, Personengruppen sind
überall zu finden. Einige davon sind besonders verbreitet wie etwa die
Ablehnung von Ausländern allgemein und einzelner ethnischer Gruppen im
Besonderen.
In der Studie wurde jedoch nicht nur nach »spürbarer Abneigung« gegenüber
verschiedenen Personengruppen gefragt, sondern auch nach der
persönlichen Wahrnehmung und Wichtung gesamtgesellschaftlicher Konflikte
und nach Meinungen zur Gesellschaft und zu Sinn oder Unsinn politischer
Aktivität.
Ein bemerkenswertes Ergebnis ist die Tatsache, daß Menschen »mit
rechtsradikalem Outfit« in Ost und West mit einer Nennung bei mehr als
80 Prozent der Befragten unangefochten auf Platz eins der Hitliste der
mit Ablehnung Bedachten stehen. Bereits auf Rang zwei folgen
Drogenabhängige (70 Prozent). Es folgt eine wilde Mischung von Gruppen,
die entweder wegen ihrer Herkunft, wegen eher biologischer
Besonderheiten oder aber aufgrund ihres Verhaltens oder ihrer sozialen
Herkunft gemieden werden. Ihre Herkunft wird vor allem Einwanderern aus
Osteuropa zum Vorwurf gemacht (von 49 Prozent der Befragten genannt).
Gegen Menschen arabischer und türkischer Herkunft (bei 36 bis 44 Prozent
der Befragten) gibt es eher Vorbehalte als gegen Menschen asiatischer
Abstammung und Personen mit dunkler Hautfarbe (bei 14 bis 18 Prozent).
Menschen, »die reich aussehen«, werden von rund einem Drittel der
Befragten nahezu gleichermaßen abgelehnt wie Obdachlose. Großen
Widerwillen gibt es aber auch gegen HIV-Infizierte, Straßenkinder,
Haftentlassene und Homosexuelle.
Menschen jüdischer Herkunft wurden von 15 Prozent (Ost) bzw. 17 Prozent
(West) als negativ wahrgenommen. Chrapa machte in diesem Zusammenhang
darauf aufmerksam, daß die Vorurteile gegen Juden nicht vorrangig von
älteren Menschen, sondern besonders häufig von Männern zwischen 21 und
30 Jahren geäußert wurden, daß Antisemitismus somit auch empirisch
nachweisbar wieder ein hochaktuelles Problem ist.
Eine deutliche Differenz zwischen Ost und West gab es bei der Wahrnehmung
von Arbeitslosen und von reich Aussehenden. Im Osten stören sich sechs
Prozent der Befragten an Arbeitslosen, im Westen sind es 14 Prozent. Bei
den Reichen ist das Verhältnis umgekehrt (38 zu 31 Prozent.
Die Ergebnisse offenbaren, daß sich »kritische Sichten« auf Ausländer und
auf Rechte häufig überschneiden. Bei nicht wenigen Deutschen, so Chrapa,
würde sich die Grundposition auf die Aussage »Ich habe was gegen
Skinheads, aber Neger kann ich auch nicht leiden« zuspitzen lassen.
Besonders bedenklich sei, was sich nun auch empirisch belegen läßt:
Angesichts des Reiz- und Informationsüberflusses würden immer mehr
Menschen die Welt hauptsächlich »emotional statt kognitiv« wahrnehmen.
Die FOKUS-Untersuchung will Chrapa auch als »Appell« an Politik und Medien
verstanden wissen, sich bei öffentlichen Debatten auf ein »Minimum an
rationalem Diskurs« zu besinnen. Denn Emotionen seien besonders leicht
manipulierbar. Gerade in Talkshows werde man fast ausschließlich mit
Behauptungen statt mit Argumenten konfrontiert.
Die von den Befragten gelieferten Begründungen für ihre
Negativwahrnehmungen bestimmter Gruppen seien, so Chrapa, eher durch
»Logiken des Vorurteils« als durch eigene Erfahrungen oder gar
allgemeingültige Fakten geprägt. Diese widersprüchlichen
Einstellungsmischungen stünden für ein »nur schlafendes
Aggressionspotential«. Insofern müßten die empirisch gewonnenen Fakten
als klare politische Warnung verstanden werden. Die »massive Gefahr der
Entsolidarisierung« sei dadurch eindeutig belegt. So sind beispielsweise
70 Prozent im Osten und 53 Prozent im Westen der Meinung, daß in der
Gesellschaft das »Recht des Stärkeren« regiert. Von der Politik werde
die Entsolidarisierung eher gefördert als verhindert. So habe die
allseits propagierte »Sparphilosophie« mittlerweile den »Rang einer
Religion«.
Was besonders ins Auge fällt, ist die Tatsache, daß es keinen direkten
Zusammenhang zwischen Ablehnung des Fremden und Anderen und der
konkreten Angst um den Arbeitsplatz gibt. Gerade gegenüber Ausländern
wurden die Vorbehalte vor allem mit der Angst vor einer zu starken
Ausbreitung fremder Kultur und dem Ärger über deren angeblich zu geringe
Anpassungsleistungen begründet. Die These »Sie nehmen uns die
Arbeitsplätze weg« war meist die letztgenannte, wenn sie überhaupt zum
Tragen kam. Nur wenige zogen ihre Einschätzungen aus eigenen negativen
Erlebnissen. Eine wesentliche Ursache für die Zunahme irrationaler
Ängste und Abwehrmechanismen sieht Chrapa gleichwohl in der ebenfalls in
der Studie zutage getretenen allgemeinen Zukunftsangst, der Sorge um die
Eskalation gesellschaftlicher Konflikte.
hagalil.com
10-01-03 |