Walser, Möllemann und Schirmacher - was
die historische Konstruktion der deutschen Nation mit Mechanismen und
Denkstrukturen in der aktuellen Antisemitismusdebatte zu tun hat."
"Heute wie damals?"
Dieses Referat wurde von Thomas Müller vom
Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus auf einer
Veranstaltung mit dem Titel "Man wird ja wohl noch..." - Aktueller
Antisemitismus in Deutschland, organisiert von
Tacheles Reden!, am 2. Juli
2002 im "Haus der Demokratie" gehalten.
Als wir von den VeranstalterInnen wegen dieses Beitrags
angefragt wurden, war das mit der Bitte verbunden, dass wir den
gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland einordnen bzw. etwas zu
seiner Funktion sagen. Die Erwartung, die mit der Frage nach der
Funktion verbunden ist, müssen wir enttäuschen: Dem gegenwärtigen
Antisemitismus kommt keine Funktion zu. Vielmehr, so lautet unsere
These, ist der Antisemitismus, der sich gegenwärtig artikuliert,
konstitutiv für die „selbstbewusste Nation“. Konstitutiv ist der
Antisemitismus also für die Kollektiv-Anrufung, die seit dem rot-grünen
Regierungs-Antritt deutsche Politik bestimmt.
Bevor ich diese These begründe, sind einige grundsätzliche Überlegungen
zum Antisemitismus angebracht. Zunächst zum Antisemitismus allgemein und
dann zum Antisemitismus in Deutschland nach Auschwitz.
Der Antisemitismus wird von aufrechten Demokraten gerne als das Andere der
Demokratie behauptet. Antisemitismus und Demokratie, so lautet die
Setzung, schließen sich aus. - Dabei sind es gerade der
sozio-ökonomische Zusammenhang demokratischer Gesellschaften und ihre
nationale Verfasstheit, die den Antisemitismus aus sich hervortreiben.
Zum sozioökonomischen Zusammenhang: Kapitalistische Herrschaft ist keine
zwischen Personen, sondern besteht in systemischen Verwertungs-Zwängen.
Diese Zwänge erscheinen als lokalisiert in der Zirkulationssphäre, weil
Geld die Verfügungsmacht über gesellschaftlichen Reichtum ist. Schon im
christlichen Antijudaismus werden die Juden mit der Zirkulation
identifiziert.
Der moderne Antisemitismus nimmt diese
Identifikation in sich auf und personifiziert den unpersönlichen
kapitalistischen Herrschaftsmodus in die Juden. Die Juden werden dann
für alle möglichen Übel des Kapitalismus verantwortlich gemacht. Zur
nationalen Verfasstheit demokratischer Gesellschaften: In der Nation
sind die atomisierten Individuen zu einem politischen Kollektiv
vereinigt.
Handelt es sich um ein völkisches nation
building (Deutschland), werden die Juden als das Gegenteil der
organischen Gemeinschaft konstruiert: Sie sind dann nicht nur für den
Kapitalismus, sondern auch für den Kommunismus verantwortlich. Auf
Seiten der Subjekte entspricht diesen objektiven gesellschaftlichen
Bedingungen, also Kapitalismus und Nation, ein wahnhaft-projektives
Welterklärungsmuster: Die eigenen Ohnmachtserfahrungen bleiben
unverarbeitet und werden als Allmachtsphantasien dorthin gewendet, wo
zwangloses Glück vermutet wird: auf die Juden, deren vermeintliche Macht
dann als das >Hinter< den Phänomen halluziert wird.
Dieser ideologische Verkehrungsmechanismus
hat seit 1948 einen Wiedergänger auf der Ebene des internationalen
Staatensystems gefunden. Der zwanghaft-gewaltförmige Charakter von
kapitalistischen Nationalstaaten erscheint verdichtet in einem einzigen
Staat: Israel ist dem Antisemitismus sozusagen der Jude unter den
Staaten.
Nach Auschwitz, dem singulären, von deutschen Tätern begangenen
Verbrechen, ist der Antisemitismus aus Deutschland nicht verschwunden.
Vielmehr hat sich seine Gestalt verändert. Analytisch muss man dabei
zweierlei auseinanderhalten: Zum einen die Frage, wie und wo der
Antisemitismus sich artikuliert. Zum anderen die Frage nach seinem
Bezug, also ob er sich primär oder sekundär gegen die Juden richtet.
Zur Frage, wie und wo sich Antisemitismus artikuliert: Nach 1945 wurde
offene Artikulation von Antisemitismus gewöhnlich im politischen Feld
und in der veröffentlichten Meinung geächtet. Sie fand in den
Hinterzimmern statt. Zumeist wurde kryptisch-antisemitisch über die
Juden geredet, d.h. in der Wendung gegen nicht näher benannte
unpersönliche Mächte oder gegen Ersatzobjekte wie die Medien bzw. die
Ostküste (Walsers Paulskirchenrede).
Zur Frage nach dem Bezug des Antisemitismus: Zumeist war der
Antisemitismus in Deuschland nach 1945 ein sekundärer, d.h. die
Judenfeindschaft ist über Auschwitz vermittelt. Erinnerung an das
singuläre Verbrechen stand in der demokratischen Bundesrepublik von
Anfang an unter dem Zeichen von Schuldabwehr. Indem solchermaßen das
Schuldgefühl diffus bleibt, ist es Nährboden für antisemitische
Projektionen: Die Deutschen fühlen sich beschuldigt, verfolgt und
bestraft von rachsüchtigen Juden. Sie halluzinieren, dass die Juden auch
noch aus Auschwitz einen Vorteil ziehen wollen. Schuld und Verantwortung
werden delegiert, vorzugsweise auf die Opfer, ihre Nachkommen oder den
jüdischen Staat.
Ich möchte nun unsere These begründen, dass der Antisemitismus, wie er
sich gegenwärtig in Deutschland artikuliert, konstitutiv ist für die
„selbstbewusste Nation“. Ich verfahre dabei in zwei Schritten: zunächst
geht es um den systematischen Zusammenhang dieser Kollektiv-Anrufung mit
Antisemitismus. In einem zweiten Schritt möchte das anhand der
politischen Prozesse der Neunziger Jahre, mit dem rot-grünen
Regierungsantritt als Einschnitt nachzeichnen. Anschließend wird auf die
jüngsten antisemitischen Ausbrüche einzugehen sein.
Systematischer Zusammenhang: „Selbstbewusste Nation“ heißt Durchsetzung
einer positiven deutschen National-Identität. Positive deutsche
Identität ist aber durch Auschwitz für immer beschädigt. Sie lässt sich
nur herstellen durch Entsorgung von Geschichte, sei es als
vorwärtsgedrehte Relativierung, sei es als Schlussstrich. Das vollzieht
sich zwangsläufig im Medium des sekundären Antisemitismus. Denn die
Juden gemahnen qua bloßer Existenz an die deutsche Tat und damit an
deutsche Schuld.
Politische Prozesse: Die sog. „Wiedervereinigung“ 1989/90 hat einen
nationalen Taumel hervorgebracht mit der bekannten Konsequenz von
rassistischer Hetze und Pogromen. In diesem Kontext entstand der
Terminus „selbstbewusste Nation“ als ein Konzept der Neuen Rechten, das
positive Nationalidentität durch militanten Geschichtsrevisionismus
begründen sollte. Das ist in dieser Form am 8. Mai 1995 gescheitert, als
die Neuen Rechten sich darauf versteiften, dass der 8.Mai als Tag der
Niederlage begangen werden solle. Die Kollektiv-Anrufung der
„selbstbewussten Nation“ wurde auf andere Weise durchgesetzt. Nämlich
indem sich die beiden erinnerungspolitischen Lager der alten
Bundesrepublik (Erinnerung an Auschwitz vs. Schlussstrich) ineinander
verschränkt haben.
Die Goldhagen-Debatte ist das beste
Beispiel dafür, als die ehemals linken Historiker Goldhagen mit allen
möglichen antisemitischen Projektionen attackierten. Der rot-grüne
Regierungsantritt hat diese Entwicklung mit der Kollektiv-Anrufung der
„selbstbewussten Nation“ in politische Form gegossen. Schröder sprach in
seiner ersten Regierungserklärung von der „erwachsenen Nation“. Parallel
dazu klatschte ganz Deutschland dem Walser Beifall, als er in seiner
Paulskirchenrede, triefend von sekundärem Antisemitismus ausrief: „Aber
in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt
ein ganz normales Volk“? Und in diesem Jahr diskutieren Schröder und
Walser am 8.Mai über Nation und Patriotismus.
Seit dem rot-grünen Regierungsantritt befinden sich Erinnerung an
Auschwitz und der Schlussstrich unter deutsche Vergangenheit auf einem
politischen Kontinuum. Mit der „selbstbewussten Nation“ hat dieser
Widerspruch seine geschichtsentsorgende Bewegungsform gefunden. So
bedeutet Erinnerung an Auschwitz heute seine vorwärtsgedrehte
Relativierung. Joseph Fischer hat das vorgemacht, indem er propagierte,
Jugoslawien wegen Auschwitz angreifen zu müssen.
Norbert Blüm hat in seinen jüngsten
antisemitischen Tiraden gegen Israel daran angeknüpft: „Meine
Vergangenheitsbewältigung ist eine Zukunftsbewältigung, in der niemand
gequält und ermordet wird.“ (Die Semantik gibt Aufschluss über Blüms
politisches Unbewusstes) Begleitet wird diese vorwärtsgedrehte
Relativierung von Figuren, in denen sich die Deutschen als die
eigentlichen Opfer stilisieren. So z.B. im Topos der Vertreibung und den
damit einhergehenden Erpressungsmanövern gegenüber Tschechien, mit denen
die Benes-Dekrete rückgängig gemacht werden sollen.
Die Kollektivanrufung der „selbstbewussten Nation“ hat in den letzten
Jahren eine antisemitische Dynamik freigesetzt, die in der deutschen
Geschichte nach 1945 ihresgleichen sucht. Die permanenten Anschläge auf
jüdische Einrichtungen und auf Gedenkstätten geben davon Zeugnis ab.
Seinen aktuellen Ausdruck findet diese
Dynamik in einem Diskurs um Israel, der vor Antisemitismus nur so
strotzt. Neu ist daran nicht, dass Israel als sekundär-antisemitische
Projektionsfläche fungiert. Neu ist hingegen die breite Akzeptanz, auf
die der Antisemitismus im Gewand vorgeblich ganz neutraler „Kritik“ an
Israel stößt. Und neu ist insbesondere die Tatsache, dass sich gegen
Israel gerichtete Projektionen reflexartig in offene Angriffe gegen
Juden in Deutschland verdoppeln.
Möllemann hat den Vorreiter gespielt mit
dem antisemitischen Uraltstereotyp, die Juden würden den Antisemitismus,
wie Friedmann durch seine „gehässige, arrogante Art“, erst hervorrufen.
Man wertet dann als „Entgleisung“, was den Tatbestand der
„Volksverhetzung“ erfüllt. Möllemann wird kritisiert und muss doch
keinen einzigen seiner Posten räumen. Nichtmal eine konsequente
Entschuldigung ist ihm über die Lippen gekommen. Der gesamte
Antisemitismus des Alltagsverstandes kann sich fortan auf Möllemann
berufen.
Wie die Kollektivanrufung der „selbstbewussten Nation“ in diesem Kontext
verläuft, lässt sich an zwei Figuren ablesen: an der
„Antisemitismuskeule“ und am „Tabubruch“.
Aus Walsers „Moralkeule“ Auschwitz, die er sekundär-antisemitisch
herbeihalluzinierte, ist die „Antisemitismuskeule“ geworden. Kritik am
Antisemitismus wird abgeblockt im Medium des Antisemitismus: Auch noch
mit dem Antisemitismusvorwurf wollen die Juden den unschuldigen
Deutschen weh tun. Darüber hinausgehend impliziert die
„Antisemitismuskeule“ zweierlei. Zum einen die Sublimierung von
Möllemann. Man distanziert sich davon, dass die Juden für den
Antisemitismus verantwortlich sein sollen. Im gleichen Atemzug wird dann
nachgelegt, dass es die von Juden geschwungene Antisemitismuskeule ist,
die den Antisemitismus hervorruft. Zum anderen ist die
„Antisemitismuskeule“ ein Einsatz im Kampf um Definitionsmacht: die
Antisemiten wollen fortan selber definieren, was Antisemitismus ist. Den
Juden in Deutschland soll damit ihre einzige Widerstandsmöglichkeit
genommen werden: nämlich das beim Namen zu nennen, was ihnen angetan
wird.
Zwilling der „Antisemitismuskeule“ ist die Rede vom „Tabubruch“: In
Deutschland stand niemals - wie behauptet wird - Kritik an Israel unter
einem „Tabu“. Geächtet war einzig und allein die offene Artikulation von
Antisemitismus im politischen Feld und in der veröffentlichten Meinung.
In der Rede vom „Tabu“ werden die Juden ein weiteres Mal als strafende
Instanz imaginiert. Diese Figur hat eine ganz bestimmte Wirkung. Nämlich
die Grenzen zu erweitern, in denen offene Artikulation von
Antisemitismus möglich ist.
Abschließend noch eine Anmerkung zu den Reaktionen auf Walsers jüngstes
Buch. Die „Zeitung für Deutschland“ hat einen Vorabdruck wegen der darin
enthaltenen antisemitischen Stereotypien verweigert. Der FAZ-
Herausgeber Frank Schirrmacher, neben Walser und Schröder einer der
Protagonisten der „selbstbewussten Nation“ und bis dato Walser erster
Promotor, hat das in einem offenen Brief in kaum zu beanstandender Weise
begründet. Dass diese plötzliche Sensibilität für Antisemitismus
trügerisch ist, zeigt sich im letzten Absatz: „Sie, lieber Herr Walser,
haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube
heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage.“
Mit Walsers literarischer Mordphantasie hat
die „selbstbewusste Nation“ also eine Niederlage erlitten. Dass es bei
dieser Distanzierung von Walser gerade nicht um die antisemitischen
Figuren geht, auf denen die „selbstbewusste Nation“ beruht, hat Jan
Phillip Reemtsma bestätigt. Seine Rezension von Walsers Buch in der FAZ
vom letzten Donnerstag endet damit, dass das bisherige Werk Walsers vom
Antisemitismus freigesprochen wird. Ist es ein Zufall, dass dieser
Freispruch ausgerecht von Reemtsma vorgenommen wird, der Mitte der
1990er Jahre noch eines der größten Hassobjekte der Zeitung für
Deutschland war? - Wir lesen das als Bestätigung unserer These, dass im
Antisemitismus der „selbstbewussten Nation“ die ehemaligen
geschichtspolitischen Kontrahenten zueinander gefunden haben.
Aufstehen:
Gegen
Antisemitismus und Antizionismus!
Freitag,
26. Juli 2002, 17 Uhr auf dem St. Jakobs-Platz, München...
hagalil.com
23-07-02 |